Leitsätze:
a) Zu den Voraussetzungen einer nicht zu rechtfertigenden Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB.
b) Das hohe Alter eines Mieters begründet ohne weitere Feststellungen zu den sich hieraus ergebenden Folgen für den betroffenen Mieter im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels grundsätzlich noch keine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB.
c) Der Annahme, das hohe Lebensalter des Mieters gebiete auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters in der Regel die Fortsetzung des Mietverhältnisses, liegt eine unzulässige Kategorisierung der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB abzuwägenden Interessen zugrunde.
d) Eine langjährige Mietdauer lässt für sich genommen noch nicht auf eine tiefe Verwurzelung des Mieters am Ort der Mietsache schließen. Vielmehr hängt deren Entstehung maßgeblich von der individuellen Lebensführung des jeweiligen Mieters (Pflegen sozialer Kontakte in der Nachbarschaft etc.) ab.
BGH vom 13.1.2021 – VIII ZR 66/19 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 17 Seiten]
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Mit der Entscheidung knüpft der Bundesgerichtshof an mehrere Urteile aus dem Jahr 2019 an. Darin hatte der BGH klargestellt, dass sich für die Frage, ob ein Härtefall vorliegt, keine allgemeinen Fallgruppen, etwa ein bestimmtes Alter des Mieters, bilden lassen (BGH vom 22.5.2019 – VIII ZR 180/18 und VIII ZR 167/17). Vielmehr sei in jedem Einzelfall eine sorgfältige Prüfung erforderlich, ob ein Härtefall vorliegt.
Im jetzt entschiedenen Fall mieteten die 1932 geborene Mieterin und ihr 1934 geborener, inzwischen verstorbener Ehemann im Jahr 1997 von der Rechtsvorgängerin der Vermieterin eine im vierten Obergeschoss gelegene Zweizimmerwohnung in Berlin.
Mit Schreiben vom 3.8.2015 erklärte die Vermieterin die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses zum 31.7.2016 wegen Eigenbedarfs. Zur Begründung führte sie an, sie wolle während ihrer Aufenthalte in Berlin künftig nicht mehr – wie bisher – zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn zur Miete, sondern stattdessen allein in der in ihrem Eigentum stehenden Wohnung leben.
Die Mieterin und ihr zwischenzeitlich verstorbener Ehemann widersprachen dieser Kündigung unter Verweis auf ihr hohes Alter, ihren beeinträchtigten Gesundheitszustand, ihre langjährige Verwurzelung am Ort der Mietsache und ihre für die Beschaffung von Ersatzwohnraum zu beschränkten finanziellen Mittel. Das Vorliegen des Eigenbedarfs bestritten sie nicht.
Das Amtsgericht hatte die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage – nach Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens über die für die Beklagten zu besorgenden Kündigungsfolgen – abgewiesen und angeordnet, dass das Mietverhältnis der Parteien über die betreffende Wohnung auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werde. Die Berufung der Vermieterin vor dem Landgericht hatte keinen Erfolg gehabt. Im Revisionsverfahren hat der BGH das Urteil des Landgerichts jedoch aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Bewertung des Berufungsgerichts, die Mieterin könne die Fortsetzung des Mietverhältnisses nach §§ 574, 574 a BGB auf unbestimmte Zeit verlangen, beruhe auf revisionsrechtlich beachtlichen Rechtsfehlern. Das Berufungsgericht habe unzutreffende rechtliche Maßstäbe sowohl bei der Beurteilung des Härtebegriffs des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB als auch bei der nach dieser Vorschrift vorzunehmenden Abwägung der gegenläufigen Interessen der Mietvertragsparteien angesetzt, indem es angenommen habe, allein das hohe Alter eines Mieters rechtfertige die Bejahung einer Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB und gebiete im Rahmen der Interessenabwägung regelmäßig die Bejahung eines Anspruchs des Mieters auf Fortsetzung des Mietverhältnisses.
Zwar könne das hohe Lebensalter eines Mieters in Verbindung mit weiteren Umständen – im Einzelfall auch der auf einer langen Mietdauer beruhenden tiefen Verwurzelung des Mieters in seiner Umgebung – eine Härte begründen. Insbesondere könne eine Härte zu bejahen sein, wenn zum hohen Lebensalter und einer Verwurzelung aufgrund langer Mietdauer Erkrankungen des Mieters hinzukämen, aufgrund derer eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu erwarten sei, wenn der Mieter aus seiner Wohnumgebung herausgelöst werde. Lasse der gesundheitliche Zustand des Mieters einen
Umzug nicht zu oder bestünde im Falle eines Wohnungswechsels zumindest die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des erkrankten Mieters, könne sogar allein dies einen Härtegrund darstellen.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sei es jedoch weder mit Blick auf den in Art. 25 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbrieften Schutz älterer Menschen noch unter Berücksichtigung des in Artikel 1 Abs. 1 GG sowie dem Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 Abs.1 GG) verankerten Schutzes der Menschenwürde geboten, nach der Lehre der „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte eine Härte im Sinne von § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB allein aufgrund des hohen Lebensalters eines Mieters zu bejahen.
Ob eine Verletzung der Menschenwürde zu befürchten stünde, lasse sich nämlich erst beurteilen, wenn die Auswirkungen feststünden, die ein Umzug für den betroffenen Mieter aufgrund seiner individuellen Lebenssituation – insbesondere seines gesundheitlichen Zustands – hätte. Die demnach erforderlichen Feststellungen habe das Berufungsgericht nicht getroffen.
Soweit das Berufungsgericht – eher beiläufig – eine jahrzehntelange soziale Verwurzelung der Beklagten am Ort der Mietsache angenommen habe, lasse die angefochtene Entscheidung Ausführungen dazu, auf welchen Umständen diese Annahme beruhe, vollständig vermissen. Denn eine langjährige Mietdauer lasse für sich genommen noch nicht auf eine tiefe soziale Verwurzelung des Mieters am Ort der Mietsache schließen. Vielmehr hänge deren Entstehung maßgeblich von der individuellen Lebensführung des jeweiligen Mieters ab, namentlich davon, ob er beispielsweise soziale Kontakte in der Nachbarschaft pflege, Einkäufe für den täglichen Lebensbedarf in der näheren Umgebung erledige, an kulturellen, sportlichen oder religiösen Veranstaltungen in der Nähe seiner Wohnung teilnehme und/oder medizinische oder andere Dienstleistungen in seiner Wohnumgebung in Anspruch nehme.
Überdies habe das Berufungsgericht bei der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt und deshalb auch insoweit die für die Beurteilung des Streitfalls notwendigen Feststellungen nicht getroffen.
Mit der Annahme, das hohe Alter des Mieters gebiete gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters in der Regel die Fortsetzung des Mietverhältnisses, habe sich das Berufungsgericht – unzulässigerweise – auf eine (wertende) Kategorisierung der widerstreitenden Interessen zurückgezogen, nämlich dem Bestandsinteresse eines Mieters in hohem Lebensalter – im Wege einer generalisierenden Wertung – den Vorrang gegenüber dem berechtigten Erlangungsinteresse des Vermieters eingeräumt.
Es bleibt abzuwarten, zu welchem Ergebnis das Berufungsgericht nunmehr – unter Berücksichtigung der vom BGH gegebenen Hinweise – bei der erneuten Prüfung der Härtesituation der Mieterin kommt.
Wir werden berichten.
Siehe auch: Mieterverein kritisiert die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu Eigenbedarfskündigungen und verlangt eine gesetzliche Klarstellung
27.05.2021