Leitsätze:
a) Da das häusliche Musizieren einschließlich des dazugehörigen Übens zu den sozialadäquaten und üblichen Formen der Freizeitbeschäftigung gehört, sind daraus herrührende Geräuscheinwirkungen jedenfalls in gewissen Grenzen zumutbar und in diesem Rahmen als unwesentliche Beeinträchtigung des benachbarten Grundstücks im Sinne von § 906 Abs. 1 BGB anzusehen; insoweit hat ein Berufsmusiker, der sein Instrument (hier: Trompete) im häuslichen Bereich spielt, nicht mehr, aber auch nicht weniger Rechte als ein Hobbymusiker und umgekehrt.
b) Dass sich Geräuscheinwirkungen durch die Nutzung von Nebenräumen wie einem Dachgeschoss- oder Kellerraum verhindern oder verringern lassen, rechtfertigt es nicht, dem Nachbarn das Musizieren in den Haupträumen seines Hauses gänzlich zu untersagen.
c) Bei der Bestimmung der einzuhaltenden Ruhezeiten kommt es grundsätzlich nicht auf die individuellen Lebensumstände des die Unterlassung beanspruchenden Nachbarn an (hier: Nachtdienst als Gleisbauer); vielmehr sind beim häuslichen Musizieren die üblichen Ruhestunden in der Mittags- und Nachtzeit einzuhalten.
d) Wann und wie lange musiziert werden darf, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere dem Ausmaß der Geräuscheinwirkung, der Art des Musizierens und den örtlichen Gegebenheiten; eine Beschränkung auf zwei bis drei Stunden an Werktagen und ein bis zwei Stunden an Sonn- und Feiertagen, jeweils unter Einhaltung üblicher Ruhezeiten, kann als grober Richtwert dienen.
BGH vom 26.10.2018 – V ZR 143/17 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 22 Seiten]
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Dieses vorweg: Vorliegender Streit war kein mietrechtlicher, sondern ein nachbarrechtlicher unter Eigentümern benachbarter Reihenhäuser. Die Entscheidung des 5. Senats des BGH kann daher nicht eins zu eins auf die mietrechtliche Situation der Musikausübung in einer gemieteten Wohnung eines Mehrfamilienhauses übertragen werden. Insbesondere ist im Mietrecht immer zu prüfen, ob nicht wirksame Beschränkungen der Musikausübung mietvertraglich vereinbart worden sind. Gleichwohl können die Ausführungen des 5. Senats zur Sozialüblichkeit des Musizierens auch im Mietrecht Richtschnur sein, nämlich wenn es um die Frage des vertragsgemäßen Gebrauchs der Wohnung geht.
Hier hatte der Nachbar eines im Reihenhaus musizierenden Berufsmusikers dessen als störend empfundenes Trompetenspiel verbieten beziehungsweise einschränken lassen wollen, zumal er Schichtarbeiter sei und tagsüber schlafen müsse.
Nach den Feststellungen des Landgerichts bei einem Ortstermin sei das Trompetenspiel im angrenzenden Wohnzimmer nicht und im Schlafzimmer leise zu hören, wenn der Nachbar im Dachgeschoss musiziere. Wenn der Nachbar in seinem Wohnzimmer musiziere, sei dies im angrenzenden Wohnzimmer in schwacher Zimmerlautstärke zu vernehmen. Anhand dieser Feststellungen hatte das Landgericht dem Nachbarn untersagt, im Haus Musikunterricht zu erteilen und außerhalb des Dachgeschosses zu musizieren. Für das Dachgeschoss hatte es das Trompetespielen montags bis freitags nur für maximal zehn Stunden pro Woche außerhalb der Ruhezeiten erlaubt sowie an maximal acht Samstagen oder Sonntagen für jeweils eine Stunde.
Der BGH hob das Urteil des Landgerichts auf und verwies den Rechtsstreit dorthin zurück, weil das Landgericht einen zu strengen Maßstab angelegt habe.
Das häusliche Musizieren einschließlich des dazugehörigen Übens gehöre – so der BGH – zu den sozialadäquaten und üblichen Formen der Freizeitbeschäftigung und sei aus der maßgeblichen Sicht eines „verständigen Durchschnittsmenschen“ in gewissen Grenzen hinzunehmen, weil es einen wesentlichen Teil des Lebensinhalts bilden und von erheblicher Bedeutung für die Lebensfreude und das Gefühlsleben sein könne; es gehöre – wie viele andere übliche Freizeitbeschäftigungen – zu der grundrechtlich geschützten freien Entfaltung der Persönlichkeit. Andererseits solle auch dem Nachbarn die eigene Wohnung die Möglichkeit zur Entspannung und Erholung und zu häuslicher Arbeit eröffnen, mithin auch die dazu jeweils notwendige, von Umweltgeräuschen möglichst ungestörte Ruhe bieten. Ein Ausgleich der widerstreitenden nachbarlichen Interessen könne im Ergebnis nur durch eine ausgewogene zeitliche Begrenzung des Musizierens herbeigeführt werden. Dabei habe ein Berufsmusiker, der sein Instrument im häuslichen Bereich spiele, nicht mehr, aber auch nicht weniger Rechte als ein Hobbymusiker und umgekehrt.
Wie die zeitliche Regelung im Einzelnen auszusehen habe, richte sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere dem Ausmaß der Geräuscheinwirkung, der Art des Musizierens und den örtlichen Gegebenheiten; eine Beschränkung auf zwei bis drei Stunden an Werktagen und ein bis zwei Stunden an Sonn- und Feiertagen, jeweils unter Einhaltung der üblichen Ruhezeiten in der Mittags- und Nachtzeit, könne als grober Richtwert dienen. Die örtlichen Gegebenheiten seien ebenfalls von Bedeutung. Könnten die Geräuscheinwirkungen erheblich verringert werden, indem in geeigneten Nebenräumen musiziert werde, könne es aufgrund nachbarlicher Rücksichtnahme geboten sein, das Musizieren in den Hauptwohnräumen zeitlich stärker einzuschränken; das gelte insbesondere dann, wenn aufseiten des Nachbarn besondere Umstände wie eine ernsthafte Erkrankung eine gesteigerte Rücksichtnahme erforderten. Das Musizieren in den Hauptwohnräumen des Hauses könne aber nicht gänzlich untersagt werden. Auch die zeitlich begrenzte Erteilung von Musikunterricht könne je nach Ausmaß der Störung noch als sozialadäquat anzusehen sein. Die Festlegung der einzuhaltenden Ruhezeiten müsse sich an den üblichen Ruhezeiten orientieren; im Einzelnen hätten die Gerichte einen gewissen Gestaltungsspielraum. Ein nahezu vollständiger Ausschluss für die Abendstunden und das Wochenende, wie ihn das Berufungsgericht vorgesehen habe, komme jedoch nicht in Betracht. Dies ließe nämlich außer Acht, dass Berufstätige, aber auch Schüler häufig gerade abends und am Wochenende Zeit für das Musizieren fänden.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der BGH das Trompetenspiel im Dachgeschoss, das nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ausschließlich im Schlafzimmer der Kläger leise zu vernehmen war, zur Mittags- und Nachtzeit als wesentlich, zu den übrigen Zeiten aber jedenfalls für etwa drei Stunden werktäglich (und eine entsprechend geringere Zeitspanne an Sonn- und Feiertagen) als unwesentlich angesehen. Hiernach stünden dem Musiker im Dachgeschoss relativ großzügige Zeiträume zur Verfügung; infolgedessen könnte das Trompetenspiel in den Haupträumen engeren zeitlichen Grenzen unterworfen werden. Jedenfalls insgesamt sollte das tägliche Musizieren in dem Haus nach Auffassung des BGH etwa drei Stunden werktags (und eine entsprechend geringere Zeitspanne an Sonn- und Feiertagen) nicht überschreiten. Entstünden durch den Musikunterricht lautere oder lästigere Einwirkungen und damit eine stärkere Beeinträchtigung des Nachbarn, müsse dieser gegebenenfalls auf wenige Stunden wöchentlich beschränkt werden; sofern sich das Dachgeschoss zu der Unterrichtserteilung eigne, könnte das Landgericht vorgeben, dass der Unterricht nur dort stattfinden dürfe.
23.01.2019