Leitsatz:
Der substanziierte Kündigungswiderspruch des Mieters wegen einer krankheitsbedingten unzumutbaren Härte macht im Räumungsprozess die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich.
BGH vom 30.8.2022 – VIII ZR 429/21 –
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Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Die Mieterin widersprach einer Eigenbedarfskündigung und berief sich im Räumungsprozess unter Vorlage eines ärztlichen Attests auf das Vorliegen von Härtegründen gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB. Sie führte dabei an, sie leide unter anderem an fortschreitender Multipler Sklerose. Diesbezüglich machte sie geltend, ein Umzug sei ihr nicht zuzumuten, weil er zu einer Verschlimmerung des Krankheitsbilds führe.
Das Amtsgericht hatte ein Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie eingeholt. Dieser hatte hat in seinem Gutachten unter anderem ausgeführt, zur konkreten Prognose der Multiplen Sklerose könne er eine ausreichende fachliche Einschätzung nicht treffen.
Das Amtsgericht gab der auf Räumung und Herausgabe der Wohnung gerichteten Klage unter Gewährung einer Räumungsfrist statt. Die hiergegen gerichtete Berufung wies das Landgericht – unter Gewährung einer weiteren Räumungsfrist – zurück.
Nach Ansicht des Landgerichts könne die Mieterin nicht die Fortsetzung des Mietverhältnisses wegen eines Härtegrunds verlangen. Entgegen ihrer Auffassung sei die Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens im Hinblick auf ihre Erkrankung an Multipler Sklerose nicht erforderlich. Die Mieterin habe vorgetragen, dass sie insbesondere Beeinträchtigungen beim Gehen habe, so dass sie auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen sei. Dies könne als Folge einer Multiplen Sklerose durchaus angenommen werden; einer weiteren Begutachtung bedürfe es deshalb nicht. Die beschriebene Beeinträchtigung der Gehfähigkeit begründe keinen Härtefall, der einen Auszug der Beklagten aus der gemieteten Wohnung grundsätzlich verhindern könnte. Vielmehr könne diesem Umstand im Rahmen der Bemessung einer Räumungsfrist Rechnung getragen werden.
Die Revision ließ das Landgericht nicht zu. Die hiergegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde an den BGH hatte aber Erfolg.
Das Berufungsgericht habe – so der BGH – den Anspruch der Mieterin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt, da es über die behauptete Verschlimmerung ihrer Erkrankung sowie die Auswirkungen einer Räumung auf ihre gesundheitliche Situation den angebotenen Beweis auf Einholung eines neurologischen Sachverständigengutachtens nicht erhoben und in diesem Zusammenhang die Grundsätze der Wahrunterstellung missachtet habe.
Mache der Mieter – wie vorliegend – für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels substanziiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, hätten sich die Tatsacheninstanzen – beim Fehlen eigener Sachkunde – regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden seien, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen würden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten könne. Diese Verpflichtung zu besonders sorgfältiger Nachprüfung des Parteivorbringens bei schwerwiegenden Eingriffen in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit folge nicht zuletzt aus der grundrechtlichen Verbürgung in Art. 2 Abs 2 Satz 1 GG.
Erst dies versetze den Tatrichter in einem solchen Fall in die Lage, die Konsequenzen, die für den Mieter mit dem Umzug verbunden seien, im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 BGB notwendigen Abwägung sachgerecht zu gewichten.
Hiernach hätte es das Berufungsgericht nicht bei dem erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie bewenden lassen dürfen. Denn der Sachverständige habe in seinem Gutachten ausgeführt, zur konkreten Prognose der Multiplen Sklerose eine ausreichende fachliche Einschätzung nicht treffen zu können. Danach verfügte der Sachverständige nicht in jeder Hinsicht über die erforderliche medizinische Fachkompetenz, auf die es zur Beantwortung der Beweisfrage angekommen wäre.
Das Berufungsgericht sei in Anbetracht dessen unter den gegebenen Umständen gehalten gewesen, das von der Mieterin angebotene neurologische Sachverständigengutachten einzuholen. Insoweit habe sich das Berufungsgericht in gehörsverletzender Weise von der Verpflichtung zur weiteren Beweiserhebung entbunden gesehen, indem es darauf abgestellt habe, „insbesondere Beeinträchtigungen beim Gehen“ könnten „als Folge einer Multiplen Sklerose durchaus angenommen werden, so dass es diesbezüglich keiner weiteren Begutachtung“ bedürfe.
Die Feststellungen des Berufungsgerichts zum Krankheitsbild der Mieterin hätten sich pauschal auf „Beeinträchtigungen beim Gehen“ beschränkt. Damit sei zu befürchten, dass das Berufungsgericht sich von dem Tatsachenvortrag der Mieterin zu ihrem Krankheitsbild, welches sich nach ihrer Behauptung nach der Begutachtung durch den bisher beauftragten Sachverständigen verschlechtert habe, ein allenfalls an der Oberfläche haften gebliebenes Bild verschafft habe. Denn das Berufungsgericht habe den Sachvortrag der Mieterin nur bruchstückhaft berücksichtigt. Insbesondere habe es die behauptete umzugsbedingte Verschlechterung des Gesundheitszustands der Mieterin übergangen. Dies sei indes für das Verfahren von zentraler Bedeutung.
Durch die unterbliebene Beweiserhebung habe das Berufungsgericht das rechtliche Gehör der Mieterin verletzt. Diese Gehörsverletzung sei auch entscheidungserheblich, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass das Berufungsgericht nach Erhebung des angebotenen Sachverständigenbeweises zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Nach alledem sei das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Diese BGH-Entscheidung steht in einer Reihe älterer Entscheidungen des BGH. Aus diesen Entscheidungen ist allgemein abzuleiten: Mieter, die unter schwerwiegenden, das heißt den Umzug verhindernden beziehungsweise unzumutbar erscheinen lassenden Krankheiten leiden, sollten nicht vorschnell die Flinte ins Korn werfen und aufgeben. Denn sie können im Einzelfall unter Berücksichtigung der abzuwägenden Vermieterinteressen mit Erfolgsaussichten rechnen, wenn sie einer Eigenbedarfskündigung rechtzeitig widersprechen. Sie sollten vorab mehr als nur ein nichtssagendes Attest einholen, am besten einen ausführlichen Arztbrief oder sogar ein Gutachten.
03.12.2022