Seit beinahe einem halben Jahrhundert lebt Jutta Petenati in ein und derselben Wohnung – das ist außergewöhnlich, gemessen an den vielen Umzügen, die ein Durchschnittsberliner im Laufe seines Lebens in der Stadt so durchführt. Dabei ist Jutta Petenatis Lebensweg auf eigentümliche Weise mit dem früheren Bezirk Steglitz verbunden.
Jutta Petenatis Ehemann wurde im Kernbezirk Steglitz geboren, sie selbst in Lankwitz und ihr Sohn in Lichterfelde. Dies ist auch der Grund für ihre Affinität zu dem Ortsteil im Berliner Süden, die sich auch in ihrer Mitarbeit beim Heimatverein Steglitz ausdrückt. Die Jahre ihrer Ehe waren – nicht untypisch für diese Zeit – geprägt vom Leben mit der Grenze zwischen Ost und West. Diese Grenze trennte sie von ihren Eltern und Geschwistern und später den Nichten und Neffen. Schon im Jahr 1952 hat die Sektorengrenze ihr jede Möglichkeit genommen, die Orte ihrer Kindheit und Jugend im Bezirk Mitte aufzusuchen. Dass sie in Steglitz geboren wurde, war eher Zufall: Die Eltern kamen aus Pommern, der Vater hatte eine Stelle bei Siemens erhalten und arbeitete sich dort im Laufe der Jahre nach oben.
Jutta Petenati erinnert sich trotz beengter Wohnverhältnisse an eine behütete, fröhliche Kindheit, der jedoch eine um so härtere Kriegszeit folgte. Die Familie lebte in unmittelbarer Nähe des Regierungsviertels. Feindlicher Bombenbeschuss gehörte in den Jahren des Krieges zum Alltag. Nach 1945 prägten die sowjetischen Soldaten das Leben im Berliner Bezirk Mitte.
Mit 16 Jahren verhaftet
Ein für ihr weiteres Leben einschneidendes Ereignis war ihre bis heute nicht nachvollziehbare Verhaftung nach Kriegsende unter sowjetischer Besatzungszeit im August 1945. Da war sie gerade 16 Jahre alt – was konnte man in diesem Alter schon verbrochen haben? War es ihre Ausbildungszeit an der „Nationalsozialistischen Volkswirtschaft“, die sie im letzten Kriegsjahr absolviert hatte? Nach dreiwöchiger Haft und langen Verhören musste sie ein Papier unterzeichnen, mit dem sie sich zur inoffiziellen Mitarbeit gegenüber dem sowjetischen Geheimdienst verpflichtete – was ihr zum Zeitpunkt der Unterschrift nicht klar war, denn das Papier war auf russisch verfasst. Vier Jahre lang wurde sie immer wieder in konspirative Wohnungen bestellt und über Nachbarn und Bekannte ausgefragt, bis sie sich der Verpflichtung durch beherztes Verweigern entziehen konnte.
In dieser Zeit schloss Jutta Petenati eine Ausbildung als Kindergärtnerin ab. Anfang der 50er Jahre pendelte sie täglich von Ost nach West und wieder zurück: Sie arbeitete als Erzieherin in einer Charlottenburger Kindertagesstätte und engagierte sich in dem von der Glaubensgemeinschaft der Quäker eingerichteten Nachbarschaftsheim „Mittelhof“ in Zehlendorf. Dieses hielt zahlreiche kulturelle und soziale Angebote bereit, die mit jenen im Ostsektor nicht zu vergleichen waren. „Ich hatte all die Jahre meiner Jugend in Mitte in Angst und Schrecken verlebt, und die jungen Leute hier im Westen gingen währenddessen zur Tanzstunde.“ Es war geradezu ein Gegenentwurf an Lebensweisen, die der Westen ihr aufzeigte. Besonders interessierten sie die Diskussionen in einer Gruppe, die eingerichtet worden war, um den jungen Leuten, die in der Hitlerzeit aufgewachsen waren, eine freie Meinungsäußerung nach demokratischem Vorbild nahezubringen.
Bei gemeinsamen Freizeitaktivitäten im Mittelhof lernte sie auch ihren späteren Mann Hans kennen. „Dort haben damals viele Paare zusammengefunden“, erinnert sie sich.
Die jugendliche Unbeschwertheit, die der Westen Jutta Petenati zunächst geboten hatte, sollte jedoch nicht lange anhalten. Eines Abends im August 1952 erschien „leichenblass“ – wie sie sagt – ihre Mutter im Mittelhof. Ihre Nachricht: Jutta könne nicht mehr nach Hause kommen, weil dort die Volkspolizei auf sie wartete, um sie erneut zu verhaften. Über Nacht hatte sie ihr Zuhause verloren. Dieses Erlebnis hat sie geprägt – bis ins hohe Alter. Erst der Mauerfall des Jahres 1989 bescherte ihr eine gewisse Befreiung.
Auf Dauer in den Westen
Gemeinsam mit ihrem Verlobten entschied sie sich nach dem plötzlichen Heimatverlust im Jahr 1952 für eine vorgezogene Hochzeit, denn als Bewohnerin des Ost-Sektors hätte sie bis zur Klärung aller Formalitäten ihrer Übersiedlung ins Übergangslager nach Marienfelde gemusst – schwer zu vereinbaren mit ihrer Tätigkeit als mittlerweile stellvertretende Kita-Leiterin in Charlottenburg.
Die ersten beiden Jahre ihrer Ehe lebten die Petenatis bei der Mutter ihres Mannes in der Heesestraße. „Schließlich haben wir einen Tausch vorgenommen und eine Wohnung im Amfortasweg erhalten, die immerhin eine Vergrößerung auf zweieinhalb Zimmer darstellte“, erzählt Jutta Petenati. Die um 1930 erbaute Wohnsiedlung hat bis heute einen wunderbaren Ausblick vom Balkon auf den ausgedehnten Bäkepark, durch den sich ein kleines Flüsschen schlängelt. „Das ist hier wie auf dem Lande, trotzdem ist man mit dem Bus in sieben Minuten an der Schloßstraße“, erklärt sie.
Der Krieg hatte allerdings auch die idyllisch gelegene Siedlung nicht verschont: Im Vorderteil der Straße gab es umfangreiche Schäden und in ihrer frisch zu beziehenden Hochparterre-Wohnung hing die Decke derart durch, dass die Petenatis Angst hatten, sich in der Wohnung zu bewegen. Die Hausverwaltung ließ glücklicherweise eine neue Decke einziehen.
Das Nachbarehepaar, mit dem die Petenatis bald Freundschaft schlossen, lebte damals schon einige Jahre im Haus. Gut erinnert sich Jutta Petenati heute noch an Feste, an denen alle Hausbewohner teilgenommen haben. Bis heute verbindet sie nun eine beinahe fünfzig Jahre währende freundschaftliche Beziehung mit ih-ren Nachbarn. Besonders mit dem Mauerbau im Jahr 1961 und dem damit verbundenen Verlust des engen Kontaktes zu ihrer eigenen Familie waren die Mitbewohner im Haus für sie so etwas wie eine Ersatzfamilie. Auch nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes im Jahr 1978 konnte sie sich auf deren Hilfe verlassen. Allerdings nicht nur bei traurigen Anlässen, auch wenn Erfreuliches auf der Tagesordnung stand, waren die Nachbarn füreinander da.
Elke Koepping
Staatsbürgertum auf dem Lehrplan
Das Nachbarschaftsheim „Mittelhof“ geht auf einen Erlass des amerikanischen Militärgoverneurs Lucius D. Clay im Jahr 1946 zurück, der die Einrichtung von Nachbarschaftsheimen vorsah. Umgesetzt wurde dies für Berlin in Zehlendorf im Juni 1947 durch englische und amerikanische Quäker, zunächst in einer von Herrmann Muthesius erbauten Villa – dem „Mittelhof“. 1951 zog das Nachbarschaftsheim in sein bis heute bestehendes Domizil in der Königstraße 42-43, nahm den ursprünglichen Namen jedoch mit. Das „Mittelhof“-Angebot orientiert sich bis heute an den Leitbildern „Erziehung zur Demokratie, Hilfe zur Selbsthilfe, Förderung von Ehrenamt und bürgerschaftlichem Engagement“. Heute hat der „Mittelhof“ Dependencen in verschiedenen Teilen des Bezirks mit einer breiten Angebotspalette für kreative und soziale Aktivitäten und richtet unter anderem regelmäßig stattfindende Stadtteilkonferenzen aus.
ek
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MieterMagazin 4/10
Die Siedlung am Amfortasweg in Steglitz ist für Jutta Petenati seit rund einem halben Jahrhundert Wohnort und Heimat
Fotos: Elke Koepping
Die Hochzeit der Petenatis 1952
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Die Petenatis fünf Jahre später im „Messerschmitt Kabinenroller“
Foto: privat
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15.04.2017