Der Stralauer Kiez, heute bekannt durch die durchgestylte Oberbaumcity, „Universal“ und die Techno-Clubs rund um die Oberbaumbrücke, ist wie eine kleine Insel in der Nord-Süd-Achse zwischen Spree und S-Bahn-Gleisen gelegen. Eigentlich ein ruhiges Wohnviertel, folgt man der Rotherstraße ein Stück in Richtung Rudolfplatz – heute wie vor 100 Jahren, als es seine erste große Blüte erlebt. Diese städtische Insel im Herzen der Großstadt scheint für Rolf Meyer als Kind der Nabel der Welt zu sein. Und doch kehrt er nach dem Krieg nur noch wenige Male dorthin zurück.
Aus dem beschaulichen Mühlheim an der Ruhr verschlägt es im Jahr 1927 den damals siebenjährigen Rolf Meyer mitten hinein in das boomende Quartier am Rudolfplatz, dessen Geschicke eng verknüpft sind mit der Glühlampenproduktion der Osram-Werke und dem erst 1913 eröffneten Osthafengelände. In Mühlheim: grüne Wiesen hinter dem Haus und das finanziell gesicherte Leben der Familie eines Polizeibeamten. In Berlin: Lärm und Enge der Großstadt und die berufliche Unbeständigkeit des Vaters in Zeiten der Weltwirtschaftskrise nach dem selbstgewählten Abschied aus dem Polizeidienst. Es ist keine leichte Umstellung für Rolf Meyer, wie er sich erinnert, aber er schlägt sich so durch. „Ich habe ja rheinisch gesprochen und musste mich ganz schnell auf ,Icke, dette, kieke mal‘ umstellen, weil die mich in der Schule immer gefoppt haben.“
Das Bonbongeschäft im Haus
Die Mutter übernimmt im Haus Rudolfplatz 6, Ecke Goßlerstraße (heute: Corinthstraße) ein Konfitürengeschäft, das sie bereits zwei Jahre später wieder aufgeben muss. Meyer vermutet augenzwinkernd, „der Laden“ sei bloß deshalb eingegangen, weil sein Vater der beste Kunde war. Der Junge profitiert allerdings auch: „Ich hab‘ ja frühmorgens immer eine Kleinigkeit mitgekriegt.“ Ob das elterliche Bonbongeschäft seine Be-liebtheit bei den Mitschülern in der Ehrenbergschule und später in der Goßlerschule gesteigert hat, kann er heute nicht mehr sagen.
Die Wohnverhältnisse am Rudolfplatz – für heutige Zeiten kaum vorstellbar: „Hinter dem Ladengeschäft war ein Zimmer, vier Meter lang, sechs Meter breit, da hatten meine Eltern ihre beiden Metallbetten drin“, erzählt Meyer. „Zum Hof raus gab es eine eiserne Tür, rechts davon war ein Fenster mit Gitter. Wir Kinder haben da nicht mehr mit reingepasst.
Eine Witwe im vierten Stock hat uns ein Zimmer untervermietet, wo ich und mein Bruder geschlafen haben.“ An gemeinsame Mahlzeiten kann sich Rolf Meyer während dieser Zeit nicht mehr erinnern, aber daran, dass die Witwe ihm eine Geige lieh, auf der er ein Jahr lang Unterricht beim Musiklehrer Hielscher genommen hat, „an der Ecke gegenüber von der Hohenlohestraße (heute: Modersohnstraße).“ Dann war kein Geld mehr für den Unterricht da und die Witwe wollte die Geige für ihren Neffen zurückhaben.
Eine Besonderheit zu der Zeit ist auch der scharfe Polizeihund, den der Vater selbst abgerichtet und aus Mühlheim mitgebracht hat – bedenkt man die engen Wohnverhältnisse, so war dies für die Nachbarn sicher kein Vergnügen. Rolf Meyer muss den Schäferhund regelmäßig ausführen, „um die Schule rum, die verlängerte Rochowstraße runter. Dahinter war der erste Fußballplatz von Stralau, davor allerhand Glasscherben von Osram. Da saßen die Arbeitslosen und haben die Glühlampen mit Steinen zerkloppt, damit sie für das Altmetall beim Altwarenhändler noch ein paar Pfennige bekamen.“
Umzug in die Beymestraße
Eine Begebenheit aus dieser Zeit wird er sicher nie vergessen, denn die Narbe zeichnet sich noch heute deutlich an seinem Kopf ab. „Ich hab‘ den Hund an ein Knopfloch von dem Mantel angebunden, den mir meine Mutter genäht hatte. Wie ich hinter die Schule komme, sieht der Hund eine Katze, rennt hinterher und hängt am Knopfloch fest. Das ist dann natürlich ausgerissen, und ich bin auf das Pflaster geknallt.“
Die Familie zieht im Jahr 1930 wieder um, diesmal innerhalb des Kiezes. „Wir tauschten nach der Geschäftsaufgabe in die Beymestraße 9 (heute: Lehmbruckstraße 13) mit einer Frau Bartus, die den Laden übernahm.“ Frau Bartus übernimmt auch den Schäferhund und führt offensichtlich das Geschäft so gut, dass sie wenige Zeit später ein zweites am Markgrafendamm eröffnen kann. Warum dies den Eltern nicht gelungen ist, ist für Rolf Meyer bis heute ein Rätsel.
Lang gehegte Auswanderungspläne des Vaters scheitern an dessen mangelndem Durchhaltevermögen, unverrichteter Dinge kehrt er aus Hamburg zurück. Zu diesem Zeitpunkt erreicht auch die allgemeine Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt. „Er hat alles mögliche versucht, Arbeit auf dem Viehhof, dann zwei, drei Jahre lang Kohlen ausgefahren. Er hat sich bemüht, aber Geld hat immer gefehlt.“ Die Mutter verdient mit Heimarbeit etwas dazu, näht Kragengarnituren und Manschetten aus weißer Seide, wie es der damaligen Mode entsprach.
Lehrstellen gibt es keine
1934 wird Rolf Meyer aus der Schule entlassen, eine Lehrstelle gibt es für ihn keine, die Schulleitung empfiehlt als Übergang das „Landjahr“, eine Art mehrmonatiger freiwilliger Hilfe in der Landwirtschaft, die von der Hitlerjugend organisiert war. Am 8. Dezember kommt Meyer zurück nach Berlin, „da hatten meine Eltern Scheidungstermin.“ Die Mutter zieht zum Tabakwarenhändler Robert Hoch in die Beymestraße 11, der gut situiert ist und nicht so ein Luftikus wie ihr erster Mann. „Da konnte sie sich ein bisschen anlehnen.“
1940 wird Meyer zum Wehrdienst eingezogen, kommt an die Ostfront und gerät in russische Kriegsgefangenschaft. Er kehrt erst 1948 nach Berlin zurück. Viel hat sich in der Zwischenzeit verändert. Der Stralauer Kiez gehört zur sowjetisch besetzten Zone. Gelegentlich besucht er noch einen Schulfreund in der Beymestraße 8, doch auch diese Besuche hö-ren bald auf, denn sein eigener Le-bensmittelpunkt liegt zwar im selben Bezirk, doch auf der anderen Seite der S-Bahngleise, wo er bis heute lebt.
Erst 2005, lange nach der Wende, als sich alles schon wieder völlig verändert hat im Rudolfkiez, kehrt er ein einziges Mal zurück: um seinem Sohn zu zeigen, wo er aufgewachsen ist.
Elke Koepping
100 Jahre Quartiersgeschichte
Der Verein „Kultur-Raum Zwinglikirche“ richtete in Zusammenarbeit mit dem Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg in diesem Jahr eine Ausstellung zur Geschichte des Rudolfkiezes aus, die diesem Artikel zugrunde liegt. Material zum Weiterlesen für historisch Interessierte bietet insbesondere eine Broschüre aus dem Jahr 2004. Sie enthält neben umfangreichem Bildmaterial aus 100 Jahren Quartiergeschichte auch sehr viele Zeitzeugenerzählungen. So finden sich neben Kindheitserinnerungen an den Kiez der 20er Jahre, Nazi- und Kriegszeiten auch Geschichten über den Wiederaufbau und das Leben in der DDR sowie Beschreibungen ehemaliger Arbeiter aus dem Innenleben des Glühlampenwerks.
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Zeitzeuge Rolf Meyer
Foto: Elke Koepping
Die Lehmbruckstraße hieß früher Beymestraße
Foto: Elke Koepping
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Foto: Elke Koepping
Meyer als junger Wehrmachtsangehöriger
Foto: Rolf Meyer
Die Zwinglikirche um 1920
Foto: Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg
Straßenszene aus der Beymestraße,
ebenfalls 1920
Foto: Berlin Upper East Side
Martin Wiebel: East Side Story. Biographie eines Stadtteils, Antje Lange Verlag 2004, 9,90 Euro
Rolf Meyer ist heute 88 Jahre alt. Er hofft, über die Beschäftigung mit seinen Kindheitserinnerungen alte Freunde aus der Schulzeit wiederzufinden und seine Erinnerungen an den Rudolfkiez mit Gleichgesinnten zu teilen.
08.03.2016