Die Menschen und ihre Gewänder zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz sind bunt und das Leben auf der Straße hat einen anderen Rhythmus als im Rest der Stadt – eine Vielfalt, die ohne Zweifel auch Konfliktpotenzial beinhaltet. Toughe Mädchengangs aus Gropiusstadt machen heute in den Medien von sich reden – aber auch 1959, als Neukölln noch ein Arbeiterbezirk unter vielen war, musste eine junge Frau sich durchbeißen können, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Nächstes Jahr feiert Margot Sharma die Goldene Hochzeit mit ihrem Mann Pramod. Die beiden leben seit geraumer Zeit abwechselnd auf ihrer Farm in Indien bei Neu-Delhi und in Hamburg. Ein weiter Weg für ein einfaches Mädchen aus Neukölln. Heute kann sie herzhaft darüber lachen, wenn sie erzählt, dass man sie in Neukölln auf dem Standesamt nicht mit einem Inder verheiraten wollte. Zum Glück fand das junge Paar verständige Standesbeamte in Schöneberg – auch dort war es die erste deutsch-indische Trauung, die die Behörde durchführte, aber wenigstens „traute“ man sich da. Dennoch: Ein erster Denkzettel in Sachen Toleranz, der der gebürtigen Neuköllnerin damals von ihren Mitmenschen präsentiert wurde. Es sollten weitere folgen, denn dass die christliche Nächstenliebe an der Kirchentür endet, wenn man mit einem „Heiden“ verheiratet ist, wurde Margot Sharma schneller klar, als ihr lieb war: Als ihre Ausbildung zur evangelischen Gemeindehelferin abgeschlossen war, wurde ihr eine Arbeitsstelle verwehrt. Und zwar in Neukölln. Dort, wo heute das arabische Wäschegeschäft neben der polnischen Eckkneipe gedeiht und man schräg gegenüber dem Rathaus prima senegalesisch essen kann.
Genug zu essen dank des Schrebergartens
Die ersten drei Jahre ihres Lebens verbrachte Margot Sharma in der Kranoldstraße 21, einer kleinen Seitenstraße der Hermannstraße. „Im Vorderhaus war ein kleiner Laden, im zweiten Hof waren die Kuhställe – was hinten produziert wurde, wurde vorne verkauft“, erinnert sie sich.
Die Mutter war Weißnäherin, der Vater arbeitete als Schlosser. Zur Geburt Margots im Jahre 1937 erhielt die Familie das Mutterkreuz der herrschenden Nationalsozialisten und Geld für ein Kinderbett. Zur gleichen Zeit kaufte der Vater einen Schrebergarten in der Glasower Straße. Margot Sharma: „Dadurch hatten wir immer genug zu essen in einer Zeit, in der andere nicht wussten, wie sie überleben sollten.“
1944 fiel der Bruder an der Front – ein Ereignis, das die ganze Familie nachhaltig erschütterte. Trotzdem erinnert sie sich während und nach des Krieges an unzählige gesellige Nachmittage und Abende mit Besuch von Nachbarn, Hausmusik und gemeinsamem Gesang. Wenn während des Krieges wegen der Bombenangriffe „verdunkelt“ wurde, wurden Geschichten erzählt oder beim Licht einer funzeligen Karbidlampe vorgelesen. „Auch die Wochen, die wir gemeinsam bei den Luftangriffen im Keller verbracht haben, haben einen zusammengeschweißt“, weiß sie heute.
Das Einzige, was sie nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1973 aus der alten Wohnung nach Indien mitgenommen hat, war übrigens ein Stapel Briefe und Dokumente aus der Zeit, in der ihr Bruder starb und die Familie zum Teil nach Pommern evakuiert worden war. Zwischenzeitlich hat sie diese in zwei Leitzordner sortiert, die immer mit ihr reisen.
In den Jahren ihres indischen „Exils“ ist sie regelmäßig zurückgekommen, um das Grab ihrer Mutter und Freunde zu besuchen oder einfach nur in ihrem alten Viertel herumzuschlendern.
Elke Koepping
Selbstversorgung mittels Grabeland
Von Neukölln gingen im Jahr 1921 wichtige Impulse für die Berliner Kleingartenbewegung aus. Sämtliche Kleingartenorganisationen schlossen sich im Rathaus Neukölln zu einem einheitlich geleiteten „Reichsverband der Kleingartenvereine Deutschlands“ zusammen. Seinen flächenmäßigen Höhepunkt in Sachen kleingärtnerischer Nutzung erreichte Berlin im Jahr 1925 mit circa 6240 Hektar. Nach dem Krieg wurden dann Freiflächen und Ruinengrundstücke als sogenanntes „Grabeland“ in Kleingartenpacht vergeben, zur Förderung der Selbstversorgung – Flächen, die in aktueller Zeit häufig wieder bebaut werden.
ek
Mehr Informationen:
www.gartenfreunde-berlin.de
www.kleingaertner-spandau.de
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MieterMagazin 11/08
Im Kiez um die Neuköllner Kranoldstraße verbrachte Margot Sharma ihre Kindheit.
Foto: privat
Hochzeitsfoto von Margot Sharma mit ihrem indischen Mann vor dem Standesamt Schöneberg
Foto: privat
Margot Sharma ist heute 71 Jahre alt. Mit ihren Kindern und Enkelkindern, die in zwei unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen sind, möchte sie ihre Vergangenheit teilen. Deshalb schreibt sie immer wieder ihre Erinnerungen für diese auf und vermittelt über die „ZeitZeugenBörse“ ihre Erfahrungen an andere junge Menschen.
ZeitZeugenBörse e.V.
Tel. 44 04 63 78
www.zeitzeugenboerse.de
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08.03.2016