Seit knapp 60 Jahren lebt Emil Schumacher in seiner Wohnung in der so genannten „Märchensiedlung“ in Köpenick. Einen kompletten Generationenwechsel hat er dabei in der ehemaligen Arbeitersiedlung verfolgt: Während die alten Bewohner langsam aussterben, rücken junge Familien nach. Die Kinderstimmen, die jetzt wieder in den Straßen zu hören sind, erinnern ihn an die Zeit um 1947, als er frisch vermählt in der Mittelheide 50 eine Wohnung bezog.
„Ich bin gebürtiger Saarländer. Wenn ich zu DDR-Zeiten in irgendwelchen Betrieben auftauchte, hieß es immer, ,Ach, der Saarländer kommt.‘ Es gab ja zwei Saarländer, den Honecker und mich.“ 1924 wurde Emil Schumacher im Saargebiet mitten in die Grenzstreitigkeiten zwischen den Deutschen und den Franzosen hineingeboren. Seinen Vater, als Dreher in der Stahlindustrie beschäftigt, traf 1935 die ganze Wucht der Ereignisse, die die meisten Menschen heute nur im Geschichtsbuch gelesen haben: Mit dem Wiederanschluss an das deutsche Reich kam zugleich die Arbeitslosigkeit, denn die französischen Besatzer hinterließen nur noch Industriebrachen. Dann der Ortswechsel. „Mein Vater bekam Arbeit in Berlin bei Borsig“, erinnert sich Emil Schumacher. „Er hat doll verdient, aber alles versoffen.“ Von Wedding zog die Familie ein Jahr später nach Reinickendorf in die „Weiße Stadt“ und mit dem Tod der Mutter im Jahr 1940 heiratete der Vater die Inhaberin einer Dampfwäscherei in Köpenick. „Meine Stiefmutter mochte mich nicht. Das war so schlimm – ich hab es nicht mehr ausgehalten und mich freiwillig gemeldet. 1942 ging ich dann als Funker zur Kriegsmarine.“ Er hatte Glück im Unglück. „Dass ich so eine böse Stiefmutter hatte, hat mir das Leben gerettet: Statt zur Marine wäre ich an die Ostfront gekommen.“
Seine Frau Irmgard lernte er nach der Rückkehr aus dem Krieg 1946 im Tanzlokal „Spreekasino“ kennen. „Die hat mir auf Anhieb gefallen.
1947, acht Tage nach seiner Hochzeit, dann die ärztliche Diagnose: Tuberkulose. „Ich war ein Todeskandidat, lag ein halbes Jahr im Krankenhaus. Es war ein Wunder, dass sich meine Frau nicht angesteckt hatte.“ Drei Jahre lang war er verrentet, nicht arbeitsfähig.
Jede Menge Glück im Unglück
Und wieder hatten sie Glück im Unglück – die Zweieinhalbzimmerwohnung in der Mittelheide 50, die sie zunächst mit einer Frau mit zwei Kindern teilten, durften sie behalten, da die Mitbewohner in den Westen gingen. „Da war eine Küche drin und ein komplettes Schlafzimmer. Wir haben die Kaution bezahlt und sind eingezogen.“ Als die Mitmieter weg waren, kam eine Woche später das Wohnungsamt: „Was, zwei Leute in einer Zweieinhalbzimmerwohnung? Da müssen Sie raus.“ Nach einem Schreiben der Lungenfürsorge ließ das Wohnungsamt mit sich reden – unter der Bedingung, dass das Ehepaar Schumacher einen Untermieter aufnahm, der schriftlich bestätigte, dass er von der Lungentuberkulose Emil Schumachers Kenntnis hatte. Schumacher: „Da kam dann Heinz Rudolf Hoffmann – Heinerle, ein Dresdner, das wurde der beste Freund, den ich je hatte.“ Heinerle zog später schräg gegenüber einen Stock tiefer in eine Wohnung.
Nicht nur zu Heinerle, sondern auch zu den übrigen Nachbarn hatte man in der Mittelheide ein sehr gutes Verhältnis, alle waren etwa zur selben Zeit eingezogen und im selben Alter. Der Grund dafür lag in den davor liegenden Kriegsgeschehnissen: Am 23. April 1945 waren die Panzer der ersten Gardepanzerarmee der sowjetischen Streitkräfte durch die Mittelheide gerollt, begleitet von der achten Gardearmee. Eine wenig märchenhafte Zeit – statt Frau Holle und Dornröschen regierten Gewehre und Handgranaten. Die heute so verschlafen und friedlich wirkende Großsiedlung am Waldrand, durch die nur gelegentlich einmal ein langsames Auto rollt, wurde zum Kriegsschauplatz.
Als Schießereien noch an der Tagesordnung waren
„Es gab hier schwere Schießereien. Aus den Fenstern oben ballerten Leute, da haben die Soldaten natürlich zurück geschossen. Bis vor ein paar Jahren, als die Häuser verputzt wurden, konnte man noch die Einschusslöcher sehen.“ Die einfachen Soldaten biwakierten im Waldgebiet des heutigen Landschaftsschutzgebietes Mittelheide, in welchem sich auch ein großer Schießplatz aus dem 19. Jahrhundert befindet. Die Offiziere hingegen jagten die Bewohner aus ihren Häusern und nahmen in der Märchensiedlung Quartier. Als die Armee wieder abzog, hinterließ sie Teilruinen. Die Mittelheide war leer geräumt und bot viel Platz für junge Familien.
Die Fotos der Familie Schumacher aus den Nachkriegsjahren zeigen trotz Zerstörung und schlechter Versorgungslage auch einen ganz normalen Alltag, der endlich wieder Einzug gehalten hatte. „Sämtliche Scheiben waren kaputt. Wir hatten Bakelit in den Fenstern, das hat bei Wind immer geklappert, wenn man nachts im Bett lag. Es hat gedauert, bis mal Gas da war. Strom war knapp. Der Schießplatz im Wald wurde bis in die 60er Jahre hinein noch täglich bis spät in die Nacht von der Sowjetarmee genutzt, die dort mit harter Munition geübt hat.“ Bis 1949/1950 war es ratsam, nachts zu Hause zu bleiben, denn die Straßenbeleuchtung in Köpenick war mangelhaft, Raub und Schießereien waren an der Tagesordnung.
Und noch ein zweites Mal rollten sowjetische Panzer durch die Mittelheide: am 17. Juni 1953. Ein weiteres historisches Datum, das die Siedlung direkt betraf. Emil Schumacher absolvierte zu der Zeit in West-Berlin ein Ingenieursstudium für Hochfrequenz- und Fernmeldetechnik. „Es kam einer in die Vorlesung rein und sagte, dass in Ost-Berlin eine Revolte losgebrochen ist.“ Es fuhren keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, er musste also nach Hause laufen und sich vor durchfahrenden Panzern in Sicherheit bringen. Da er mitten in den Prüfungen war, brauchte er nach den Ereignissen einen Passierschein, um in den Westen zu gelangen.
Trotz eines sehr guten Einstellungsangebotes von einer West-Berliner Firma und fehlender Aufstiegsmöglichkeiten in der späteren DDR durch seine Weigerung, in die Partei einzutreten, hat es Emil Schumacher rückblickend nie bereut, dass er nicht mit seiner Frau in den Westen gegangen ist. Da waren die Schwiegereltern, die in der Nähe wohnten, und da war der gute Zusammenhalt von Freunden und Nachbarn in der Mittelheide. „Ab und zu wurde dann hinter dem Haus gegrillt, alle machten mit. Was haben wir hier Feste gefeiert!“ Mit einem lachenden und einem weinenden Auge blickt Emil Schumacher dabei zurück. „Das sind die Zeiten, in denen wir erwachsen geworden sind, wo wir sesshaft wurden und nie die Absicht hatten, hier mal auszuziehen. Und die hab‘ ich bis heute nicht!“
Elke Koepping
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MieterMagazin 10/06
Niemals ans Wegziehen gedacht:
Emil Schumacher
Fotos: Elke Koepping (2), Schumacher (3)
Sonnenbad anno 1948 hinterm Haus:
Irmgard Schumacher
Die Märchensiedlung in Köpenick heute
Spaziergang durch die Märchensiedlung Ende der 40er: An der Fassade sind noch deutlich die Spuren des Krieges zu sehen
Das Ehepaar Schumacher
Der heute 82-jährige Emil Schumacher möchte durch seine Erinnerungen dazu beitragen, dass auch die hässlichen Seiten der Vergangenheit nicht vergessen oder verdrängt werden.
Geschichte im Detail
Sowohl die Großsiedlung Schillerpromenade, die so genannte „Weiße Stadt“ in Reinickendorf als auch die Siedlung Mittelheide, die „Märchensiedlung“ in Köpenick wurden nach Plänen des Architekten Otto Rudolf Salvisberg erbaut, einem der Protagonisten des modernen Siedlungsbaus. An der Seite von Bruno Taut wirkte dieser auch am Bau der Gehag-Siedlung „Onkel Toms Hütte“ mit. Übrigens galt Köpenick seit Mitte des 19. Jahrhunderts als „Waschküche Berlins“, denn dort hatten sich besonders viele Wäschereien angesiedelt. Es wundert also kaum, dass Emil Schumacher 1940 eine Dampfwäscherin heiratete.Diese und andere wissenswerte Informationen findet man im Geschichtsteil folgender Webseiten:
www.koepenick.de
und
www.koepenick.net
ek
08.03.2016