Renate Timme ist Reinickendorferin aus Überzeugung. Ihre persönliche Geschichte ist ein Vierteljahrhundert lang auf unterschiedlichste Weise mit der im Bezirk ansässigen Baugenossenschaft „Freie Scholle“ verknüpft. Seit 1995 lebt sie in einem Genossenschaftsneubau am Waidmannsluster Damm und fühlt sich dort nach wie vor zu Hause.
„Ich habe in dieser Wohnung die schönsten Jahre meiner Ehe erlebt“, erzählt Renate Timme. Vor drei Jahren starb ihr Mann Rudolf, trotzdem hat sie das Gefühl, dass er irgendwie immer noch da ist, wenn sie nach Hause kommt. „Für uns war diese Wohnung ein kleines Paradies. Als wir eingezogen sind, haben wir uns komplett neu eingerichtet. Wir haben im Alter unsere Gemeinsamkeit und unsere schöne neue Wohnung so richtig genossen.“
Keine Wohnung wie die andere
Eine architektonische Besonderheit des Mehrfamilienhauses bereitete ihnen zu Beginn ihrer Wohnzeit allerdings einiges Kopfzerbrechen: Die sogenannte „Ziekowsiedlung“ entstand auf einem dreieckigen Grundstücksrest, der im Zuge des Ausbaus der Stadtautobahn übriggeblieben war. Um den Platz optimal zu nutzen, errichtete Architekt Joachim Wiechert das Gebäude in einem durchgängigen Rundbogen, der von der Ziekowstraße zur Ecke Waidmannsluster Damm/W.-Blume-Allee führt und in einem gläsernen spitzen Winkel auf die W.-Blume-Allee hin ausläuft. Diese Bauweise führt zu einem gewissen Schallschutz gegenüber der nahe gelegenen Autobahn, von der auf der Gartenseite des Gebäudes nichts zu hören ist. Da die Wohnungen außerdem in den oberen Stockwerken etwas zurückgesetzt sind, hat keine Wohnung den gleichen Grundriss. Durch die Fassadenrundung sind die Räume im Grundriss ungleichmäßig trapezförmig, was das Aufstellen einer Schrankwand im Wohnzimmer und das Auslegen eines rechteckigen Teppichs für die Timmes beim Bezug der Wohnung zu einem schwierigen Unterfangen geraten ließ. Gerade der Schnitt macht die Wohnung jedoch auch einzigartig, findet Renate Timme.
Ihre Liebe zum Bezirk Reinickendorf geht für die gebürtige Charlottenburgerin auf das Jahr 1969 zurück: Ein Jahr zuvor hatte sie, zweiunddreißigjährig, eine Heiratsannonce aufgegeben – und nun ihren Zukünftigen kennengelernt. Rudolf war Fleischer von Beruf, trug in sich aber den Traum von einer eigenen Gastwirtschaft. „Da ich ein sehr lebendiger Mensch bin und gerne erzähle, war ich natürlich die ideale Wirtin“, bekennt sie. Die Eheleute machten in der Berliner Straße ein Lokal auf, „eine richtige Berliner Eckkneipe – da standen sie in Dreierreihen, wenn Borsig Feierabend hatte“, erinnert sich Renate Timme. Damals lernte sie Reinickendorf so richtig kennen, wie sie erzählt: „Wir hatten einen Schäferhund und mit dem bin ich immer in die Jungfernheide geradelt oder über Borsigwalde hier zum See.“ Von diesen Ausflügen kannte sie bereits den Schollenkrug, das Vereinslokal der „Freien Scholle“, denn dort kehrte sie regelmäßig auf eine Fassbrause ein. „Die ersten Jahre mit der eigenen Gastwirtschaft waren sehr abwechslungsreich, aber nach dreizehn Jahren wollte ich wieder etwas Kaufmännisches machen“, sagt sie.
Das Ehepaar verließ Berlin und ließ sich in der Lüneburger Heide nieder, wo es einen Landgasthof übernahm. Mitte der 80er Jahre lief das Lokal nicht mehr so gut. Wieder war eine Veränderung angesagt. Renate Timme wollte wieder ins Büro, fand vor Ort aber keine Stelle, so dass sie sich wieder in Berlin bewarb. „Nachdem ich unzählige Bewerbungen geschrieben hatte und mich keiner haben wollte, hatte ich dann auf einmal fünf Angebote in Berlin – das war ein wunderbares Gefühl.“ Die Genugtuung darüber sieht man ihr heute noch an. „Mich hat’s komischerweise immer wieder hierher gezogen, ganz sprichwörtlich bin ich wohl wieder zu ,meiner Scholle‘ zurückgekehrt“, mutmaßt sie, denn die damals 50-Jährige fing dann als Buchhalterin und Sachbearbeiterin im „Schollenkrug“ an.
Rückkehr nach Berlin
Glücklicherweise konnten die Eheleute im Gebäude des Wirtshauses eine möblierte Wohnung anmieten, Ehemann Rudolf verkaufte in der Lüneburger Heide alle Habseligkeiten und folgte bald seiner Ehefrau nach. „Für mich war das ein Traumjob: Ich hatte zwei Dackel, die konnte ich mit ins Büro nehmen oder einfach in der Wohnung lassen und mittags schnell mit ihnen rausgehen.“ Den Eheleuten war jedoch klar, dass ihre Wohnzeit im „Schollenkrug“ begrenzt sein würde, denn die Wohnung war gekoppelt an die Arbeitsstelle in der Buchhaltung. Also kauften sie sich als Nächstes einen Ge-nossenschaftsanteil.
„Es war schön, abends immer aus dem Fenster des ,Schollenkrugs‘ zu gucken: Da saßen die ganzen Kneipengäste im Vorgarten, das war nie langweilig.“ Für private Feiern konnten sie sich praktischerweise ebenfalls im Lokal einmieten: „Unsere Silberhochzeit haben wir zwei Meter von unserer Wohnung entfernt im großen Saal gefeiert – wir mussten zu später Stunde also nur über den Flur, um nach Hause zu kommen!“
Mit 58 Jahren wollte Renate Timme aus gesundheitlichen Gründen ihre Arbeit in der Genossenschaft beenden. Das passte zeitlich gut, denn die Pläne für den Neubau der Ziekowsiedlung lagen bereits vor, so dass der Anmietung einer Genossenschaftswohnung nichts im Wege stand.
Die Anfangszeit in dem Neubau, in den vor allem junge Familien mit kleinen Kindern einzogen, verlief für das schon ältere Ehepaar allerdings nicht immer ganz so reibungsfrei, wie man sich das im Alter wünscht. „Einmal habe ich zwölf Kinder auf diesen kleinen Plastik-Autos gezählt, die sind hier immer im Kreis rumgefahren – eine richtige Prozession! Die machten einen Heidenlärm.“ Mittlerweile hat sich das aber etwas gelegt, die Kinder sind älter geworden und einige Bewohner schon wieder weggezogen. Mittlerweile ist die Bewohnerschaft gut verteilt auf alle Altersklassen.
Heute ist Renate Timme mit ihrer „Scholle“ sehr zufrieden: „In meinem Aufgang herrscht ein guter Zusammenhalt, so wie ich mir das immer gewünscht habe.“ Sie hat einige gesundheitliche Einschränkungen, kann aber auf die Hilfe ihrer Nachbarn zählen. „Der Mieter unter mir bringt mir einmal im Monat meine Lebensmittel hoch.“ Eine andere Nachbarin ist Fußpflegerin, deren Dienste nimmt sie regelmäßig in Anspruch, und mit einer weiteren hat sie täglich telefonischen Kontakt. „Ich rufe sie morgens immer um dieselbe Zeit an und erzähle ihr, was ich vorhabe. Wenn ich nicht anrufe, schaut sie sofort, ob alles in Ordnung ist.“
Trotz der gesundheitlichen Einschränkungen ist Renate Timme ehrenamtlich noch sehr rührig. Die Bushaltestelle direkt vor ihrem Haus und die kostengünstige Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel mit dem Schwerbehindertenausweis ermöglichen ihr ein aktives Leben im Alter – ganz nach den Vorstellungen, welche die Gründungsväter der „Freien Scholle“ einst umtrieb: ein selbstbestimmtes Leben in einem gemeinschaftlich orientierten Wohnumfeld und in Naturnähe zu führen – auf „Freier Scholle“ eben.
Elke Koepping
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MieterMagazin 11/09
Die Ziekowsiedlung – ungewöhnliche Architektur mit ungewöhnlichen Wohnungsgrundrissen
Foto: Freie Scholle
Die Ziekowsiedlung – Bewohnerin Renate Timme auf dem Balkon
Foto: Elke Koepping
Glückliche Jahre:
Silberne Hochzeit (Foto oben),
Ehemann Rudolf vor dem ersten eigenen Lokal in der Berliner Straße (Foto Mitte),Renate Timme (rechts außen) mit Freundinnen in der Wohnung über dem Schollenkrug (Foto unten)
Fotos: privat
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Baugenossenschaft Freie Scholle
Die Gemeinnützige Baugenossenschaft Freie Scholle eG wurde im Jahr 1895 von dem Baumeister Gustav Lilienthal, dem Bruder des Flugpioniers Otto Lilienthal, ins Leben gerufen. Damals lag Tegel noch weit vor den Toren der Stadt. Das Konzept der Gründer sah selbstbestimmtes Wohnen für die einfache Arbeiterschaft vor und die Schaffung von Wohnraum jenseits der zeitüblichen Bauspekulation. Damit wurde die „Freie Scholle“ zu den Vorreitern der um die Jahrhundertwende populären Gartenstadtbewegung. Zum Bestand gehörenüberwiegend Altbauten rund um das Tegeler Fließ, darunter der im Jahr 1920 in Kooperation mit dem Wohnungsunternehmen GEHAG unter der Leitung von Bruno Taut errichtete „Schollenhof“, der heute unter Denkmalschutz steht. Die „Ziekowsiedlung“ am Waidmannsluster Damm ist das letzte Bauvorhaben der „Freien Scholle“. Rund 4000 Mitgliedern stehen in der Baugenossenschaft übrigens nur etwa 1500 Wohnungen gegenüber, was die bis heute ungebrochene Popularität des Wohnens am grünen Stadtrand deutlich macht.
ek
08.03.2016