Die Swinemünder Straße ist eine der Straßen in Berlin, die durch den Mauerbau geteilt wurden. Diesseits und jenseits der Grenze entlang der Bernauer Straße entwickelten sich ganz eigene Kieze und unterschiedliche bauliche Strukturen, die ein homogenes Zusammenwachsen beider Straßenteile bis heute verhindert haben. Das Ehepaar Irmchen und Werner Petri lebt seit 50 Jahren im Westteil der Straße. Die Grenze als Begrenzung, als Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, wie auch die Mauer an der Bernauer Straße, spielten in ihrem Leben immer eine Rolle.
Der Ostteil der Swinemünder Straße in Richtung Zionskirchplatz gehört zum Stadtteil Mitte und ist mit seinem unprätentiös sanierten Altbaubestand noch nicht von der Yuppie-Schickeria vereinnahmt worden, sondern nach der Wende relativ normal geblieben. Der in Wedding gelegene Westteil in Richtung Gesundbrunnen hingegen zeichnet sich durch in den letzten Jahren stark heruntergekommene, wenig ansehnliche Neubauten aus den 60ern aus. „Für uns Weddinger war die Brunnenstraße traditionell immer die Flaniermeile. Das kann man ja heute total vergessen mit den ganzen Billig-Läden und Döner-Imbissen“, sagt Irmchen Petri nicht ohne Wehmut. Schon der Mauerbau hatte die Kiezstruktur nachhaltig verändert. Trotzdem haben die Petris nie daran gedacht umzuziehen, ganz abgesehen davon, dass ihr Haus zu den Ansehnlicheren in der Straße gehört. „Wir haben ja unser Leben hier aufgebaut. Unser ganzer Bekanntenkreis wohnt hier, unser Kind ist hier zur Schule gegangen, und in all den Jahren gab es mit niemandem hier im Haus Querelen.“ Auch heute noch wohnt Sohn Jörg um die Ecke, in der Ramlerstraße. Selbst die Kämpfe mit dem Vermieter Degewo vor gut zehn Jahren, als das Haus saniert wurde, nahm man – mit Hilfe des Mietervereins – in Kauf. In liebevoller Detailarbeit haben die Petris ihre Wohnung im Laufe ihrer Wohnzeit immer weiter aufgewertet und mit edlen Tapeten und flauschigen Teppichen ausgestattet. Man merkt, dass sie sich wohlfühlen in ihrem Heim.
Eine ungewöhnliche Ruhe
Ihrem architektonisch wenig attraktiven Erscheinungsbild zum Trotz ist die Swinemünder Straße im Westteil so etwas wie eine grüne Ruhe-Oase. Dort, wo vor dem Mauerbau eine Straßenbahn wie selbstverständlich vom West- in den Ostsektor fuhr, befindet sich nun ein üppiger Grünstreifen mit einladenden Parkbänken. Autos können hier nicht mehr verkehren. Die Ruhe in der Gegend ist ausgesprochen ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass die Straße eigentlich mitten in der Stadt liegt. Auch merkwürdig wenige Fußgänger sind hier unterwegs.
Irmchen und Werner Petri, beide 70-jährig, zogen im Jahr 1956 aus der brandenburgischen Kleinstadt Werneuchen in den Kiez, zunächst in die Lortzingstraße zur Untermiete. Kennengelernt hatten sie sich im Grunde schon bei der Konfirmation. Irgendwie war es beiden klar, dass sie zusammenbleiben würden. Schon damals bot die Sektorengrenze dem jungen Paar einige Hindernisse. Werner Petri hatte schon seit 1953 in West-Berlin bei Siemens gearbeitet, er durfte schon bald nicht mehr nach Werneuchen hinausfahren.
1957 zogen sie dann in der Brunnenstraße in eine riesige, repräsentative Altbauwohnung und fanden schließlich die im Jahr 1959 zur Zeit des akuten Wohnungsmangels in West-Berlin mehr als attraktive Neubauwohnung in der Swinemünder Straße 86, direkt an der Ecke zur Lortzingstraße. „Da konnten wir im Karree umziehen, das war richtig günstig für uns.“ Frau Petri lacht, wenn sie sich daran erinnert. „Gezahlt hat uns den Umzug der Fischhändler, der in der Brunnenstraße sein Geschäft hatte. Der war an unserer Wohnung interessiert, die war nämlich ganz herrschaftlich ausgestattet, mit vier Zimmern und gemauerter Ofenbank. Für uns war sie damals viel zu groß.“ Der Fischhändler hatte auch Beziehungen zur Wohnungsverwaltung und gab dem Ehepaar ein „Empfehlungsschreiben für Stadtrat Schmidt“. Und das verhalf unbürokratisch schnell zu einer Neubauwohnung.
Kohlen aus dem Osten
Bis zum Mauerbau wurde der Wechsel vom West- in den Ostsektor mehr als lästiges Übel empfunden. Werner Petri erinnert sich noch schmunzelnd daran, wie er jeden zweiten Tag mit einem Rucksack und zwei Eimern voll Kohlen an den russischen Grenzposten vorbeiging. „Man konnte einfach durchgehen, da gab es auch noch keine Passierscheine. Die haben nur Stichkontrollen gemacht.“ Seine Tante am Zionskirchplatz hatte Kohlenkarten, die sie allein nicht aufbrauchte, er konnte sich die restlichen Kohlen zur Beheizung der riesigen Altbauwohnung in der Brunnenstraße holen.
Keine zwei Jahre wohnten Irmchen und Werner Petri dann in der Neubauwohnung, da kam die Mauer. Der 13. August 1961 war ein Sonntag. „Die Glocken haben wie verrückt geläutet, unten war Krach, wir gucken aus dem Fenster und alles strömte Richtung Osten. Wir waren schön früh aufgestanden, dann hieß es: schnell, schnell anziehen, da muss was los sein. Über Nacht lagen dann plötzlich diese Stacheldrahtrollen auf der Bernauer Straße.“
Der Mauerbau war ein einschneidendes Erlebnis für das Ehepaar. „Mein Mann hatte ja seine Tante Marie im Osten, die war so etwas wie seine Ziehmutter. Wir sind immer über den Rosenthaler Platz zum Zionskirchplatz spaziert, das war unser Sonntagsausflug. Wir waren ja eine Stadt gewesen, plötzlich dachten wir, wie soll das denn nur weitergehen?“ Die Ereignisse von damals sind keine schönen Erinnerungen für das Ehepaar Petri. Bis die Mauer zum Lebensalltag der West-Berliner gehörte, entwickelte die Familie wie tausend andere, die dort in ihrer unmittelbaren Nähe lebten, eine merkwürdige Routine. „Da war ja jeden Tag was Neues los. Ich bin von der Arbeit gekommen, wir haben zusammen gegessen, dann hieß es, schnell den Abwasch gemacht. Und dann sind wir runter gegangen“, erzählt Werner Petri.
Kein Wunder, dass heute beide übereinstimmend sagen: „Der Mauerfall war wirklich das größte Erlebnis in unserem Leben.“ Endlich können sie wieder in ihrer alten Heimat Werneuchen herumbummeln. „Im Grunde waren wir doch die Eingesperrten“, empört sich noch heute Werner Petri, „wir hätten zwar überall auf der Welt hingekonnt, aber ein Ausflug ins Umland war unmöglich.“ Ihre alte Spazierstrecke über den Rosenthaler zum Zionskirchplatz haben sie dennoch bis heute nicht wieder aufgenommen.
Elke Koepping
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Das Ehepaar Irmchen und Werner Petri lebt seit 50 Jahren im Westteil der Swinemünder Straße, einer der Straßen in Berlin, die durch den Mauerbau geteilt wurde. - Was haben wir Feste gefeiert!
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MieterMagazin 12/06
Die Ecke zur Bernauer Straße heute
Foto: Elke Koepping
Die Ecke zur Bernauer Straße fünf Tage nach Beginn des Mauerbaus
Foto: Familie Petri
Irmchen Petri 1961 auf dem Balkon der schicken neuen Wohnung
Foto: Familie Petri
Den Umzug in die Swinemünder Straße (hier: Ecke zur Lortzingstraße) erleichterte ein Empfehlungsschreiben an Stadtrat Schmidt
Foto: Elke Koepping
‚Das größte Erlebnis war der Fall der Mauer‘: Ehepaar Petri
Foto: Frank Wegner
Andreas Ulrich, Zwei Kilometer Deutschland.
Fünfundzwanzig Lebenslinien kreuzen eine Straße,
Verlag Das Neue Berlin 2005, 16,90 Euro
Irmchen und Werner Petri sind der Ansicht, wenn man so lange in einer Straße wohnt, dann sollte man sich auch für ihre Geschichte interessieren. Deswegen teilen sie ihre Erinnerungen gern mit anderen Menschen, die nichts darüber wissen.
Spurensuche beidseits der ehemaligen Mauer
Das Ehepaar Irmchen und Werner Petri wurde im Buch „Zwei Kilometer Deutschland“ neben vielen anderen Bewohnern von der Ost- und Westseite der Swinemünder Straße porträtiert. Neben dem Alltag der Bewohner interessiert sich der Autor Andreas Ulrich unter anderem dafür, wie es 15 Jahre nach dem Fall der Mauer diesseits und jenseits der ehemaligen Grenze aussieht und begibt sich mit Zeitzeugen auf historische Spurensuche nach der Lebensgeschichte eines in der Swinemünder Straße ansässigen jüdischen Ehepaares, das nach Auschwitz beziehungsweise Sachsenhausen deportiert wurde.
ek
08.03.2016