Im September ist das Quartiersmanagement Wrangelkiez nach 16 Jahren beendet worden. Das Quartiersmanagement war nur das jüngste Instrument aus dem Arsenal der Stadtplaner, das hier, im äußersten Osten Kreuzbergs, angewandt wurde. Im Laufe der Jahrzehnte waren „SO 36“, wie der Ortsteil nach seiner Postzustellnummer genannt wurde, und insbesondere der Wrangelkiez ein wahres Experimentierfeld für neue Planungsansätze und Förderprogramme, für Bewohnerbeteiligung und Selbsthilfe. Das alles hat Spuren hinterlassen, gänzlich umkrempeln ließ sich der Kiez jedoch nie.
Im Wrangelkiez war in der Nachkriegszeit die Sanierung der große Streitpunkt. Dabei war dieser Stadtteil nie ein förmliches Sanierungsgebiet. Auch wenn ganz Kreuzberg damals als sanierungsbedürftig galt, wurde 1963 zunächst nur das Sanierungsgebiet Kottbusser Tor festgesetzt. Sanierung hieß damals: Komplettabriss und Neubau. Das Neue Kreuzberger Zentrum am Kottbusser Tor, die Neubaublöcke an der Admiralstraße, am Böcklerpark und an der Wassertorstraße bezeugen, wie man sich ein modernes Kreuzberg seinerzeit vorstellte.
Auch über dem Rest von SO 36 schwebte in den 70er Jahren das Damoklesschwert des Abrisses. Im „Sanierungserwartungsgebiet“ investierten viele Eigentümer nichts mehr in die Instandhaltung der Häuser, und die Wohnverhältnisse verschlechterten sich. Junge deutsche Familien wanderten ab, während türkische Familien und verdrängte Sanierungsbetroffene aus anderen Vierteln zuzogen. Gleichzeitig wurde immer deutlicher, dass die Kahlschlagsanierung am Kottbusser Tor viel teurer und langwieriger wird, als ursprünglich geplant.
In dieser Phase lobte der Senat 1977 den Bürgerwettbewerb „Strategien für Kreuzberg“ aus. Die Initiative ging von der evangelischen Kirche aus, insbesondere von dem engagierten Pfarrer der Martha-Gemeinde, Klaus Duntze. Gefragt waren Ideen für eine „Neubelebung der Quartiere um den Görlitzer Bahnhof“. Das Wettbewerbsgebiet östlich der Manteuffel- beziehungsweise Mariannenstraße hieß fortan „Strategiengebiet“. Es gingen 129 Arbeiten von Laien und Fachleuten aus Kreuzberg und von außerhalb ein. Die Vorschläge reichten von der Gründung eines Bürgervereins über ein Modell zur Mietermodernisierung und den Aufbau eines Ausbildungswerkes bis zur Aufschüttung eines Berges auf dem Gelände des Görlitzer Bahnhofs. Ausgewählt wurden elf Beiträge, von denen aber mehrere schon früh an der Bürokratie scheiterten.
Um die Kreuzberger bei der Stange zu halten, zauberte der damalige Bausenator Harry Ristock 70 Millionen D-Mark aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP) des Bundes aus dem Hut. Als erstes Modellprojekt sollten damit die sogenannten Haberkern-Blöcke beiderseits der Sorauer Straße saniert werden. Die Bauverwaltung wollte dabei aber alle Hinterhäuser abreißen. Der ZIP-Ausschuss, ein Beratungsgremium, das zur Hälfte aus Bewohnern bestand, lehnte das Vorhaben deshalb ab. Als Ergebnis aus dem Strategien-Wettbewerb wurden stattdessen unter anderem dem neuen „Verein SO 36“ mehrere Mieterberater- und Sozialarbeiterstellen finanziert. Umgesetzt wurde auch der verkehrsberuhigte Umbau einiger Straßen im Wrangelkiez.
Die Internationale Bauausstellung bringt die Wende
Ab 1979 trat die Internationale Bauausstellung (IBA) in die Fußstapfen der Strategien für Kreuzberg. Die zunächst für 1984 vorgesehene, später auf 1987 verschobene Ausstellung sollte in Kreuzberg „kaputte Stadt retten“. Die IBA stoppte die bisherige Kahlschlagsanierung endgültig. Unter der leidenschaftlichen Leitung des Architektur-Professors Hardt-Waltherr Hämer, Chef der IBA-Altbauabteilung, wurden die „12 Grundsätze der behutsamen Stadterneuerung“ erarbeitet, die 1983 vom Abgeordnetenhaus beschlossen wurden. Darin wurde unter anderem festgehalten, dass die vorhandene Bausubstanz bewahrt wird und Erneuerungsmaßnahmen im Einvernehmen mit den Bewohnern und Gewerbetreibenden durchgeführt werden.
Im Rahmen der IBA sind bis 1987 im Strategiengebiet SO 36 rund 1000 Altbauwohnungen erneuert worden. Dazu kamen 400 Wohnungen in Selbsthilfeprojekten. Außerdem wurden 90 Höfe begrünt, 18 Straßenabschnitte umgestaltet und acht neue Kitas mit 738 Plätzen gebaut. „Wichtiger als die Zahlen aber ist, dass aus einer hoffnungslos verfahrenen Situation, aus Resignation und Widerstand wieder ein Stück Hoffnung, ein neu erwachtes Selbstvertrauen und wachsende Identifikation mit dem Kiez, der unmittelbaren Umgebung entstehen konnten“, so Hämer rückblickend. Die Planer sahen aber auch, dass sich die wirtschaftliche und soziale Situation der Bewohner nicht verbessert hatte, und warnten die Politik davor, nach der IBA das Engagement für Kreuzberg zurückzunehmen. Vergeblich.
Mit dem Fall der Mauer geriet SO 36 vom Rand wieder mitten in die Innenstadt, und die Berliner Stadterneuerung konzentrierte sich in den folgenden Jahren ganz auf den Osten. Im Wrangelkiez empfanden viele Bewohner die 90er Jahre als Zeit des schleichenden Abstiegs.
Sozialer Sprengstoff
Tatsächlich entwickelte sich die soziale Lage der 12.500 Einwohner des Wrangelkiezes abwärts. Im Jahr 1999 lag die Jugendarbeitslosigkeit bei 17,5 Prozent. An den Schulen hatten 86 Prozent der Schüler nicht Deutsch als Muttersprache. Viele deutsche Eltern meldeten ihre Kinder an Grundschulen in anderen Bezirken an. Alkoholismus und Drogenkonsum sowie das teilweise aggressive Auftreten von Jugendgruppen beeinträchtigten das Zusammenleben. In schrillen Zeitungsberichten wurde der Wrangelkiez als „Ausländergetto“ beschrieben, in das sich die Polizei angeblich nur noch in Mannschaftsstärke hineintraue.
Der Wrangelkiez gehörte im Jahr 1999 zu den ersten 15 Berliner Stadtteilen, in denen der Senat das sogenannte Quartiersmanagement einführte. Um zu verhindern, dass sich städtebauliche und soziale Probleme in einzelnen Stadtvierteln ballen und Berlin sich immer weiter in arme und reiche Stadtteile aufspaltet, setzte der damalige Stadtentwicklungssenator Peter Strieder Quartiersmanager ein, die die Bewohnerschaft aktivieren sowie lokale Kooperationen und Netzwerke bilden sollten. Finanziert wurde das aus dem neu aufgelegten Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“.
Heute, nach 16 Jahren, herrscht im Wrangelkiez ein ganz anderes Klima. Im Gegensatz zu den Vorgängerprogrammen waren die Schlüsselprojekte des Quartiersmanagements keine Bauvorhaben. Entscheidend waren die Verbesserungen an den Schulen und der Aufbau eines Bildungsverbundes sowie der Neustart des Familien- und Nachbarschaftszentrums in der Cuvrystraße. Dazu kamen viele Klein- und Kleinstprojekte, die das Leben im Kiez angenehmer machten. „Wir haben hier eine gute Struktur geschaffen, und die wird auch weiter tragen – da bin ich mir sicher“, resümiert Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann.
Selbstverständlich ist der Aufstieg des Wrangelkiezes nicht allein dem Quartiersmanagement zu verdanken. Teilweise wurde das Quartiersmanagement von der realen Entwicklung überholt: Wo man nach der Jahrtausendwende noch Ideen zur Beseitigung des Ladenleerstandes und zur Belebung des Straßenraums suchte, herrscht heute Tag und Nacht ein überbordender Party-Tourismus.
Jens Sethmann
Hausbesetzer als Stadtentwickler
Die Kahlschlagsanierung blieb in Kreuzberg stecken – auch weil es hier heftigen Widerstand gab. Unter dem Motto „Lieber instandbesetzen als kaputtbesitzen“ gab es in Berlin zwischen 1979 und 1981 eine breite Besetzerwelle. Im Mai 1981 gab es in Berlin 168 besetzte Häuser, davon 86 in Kreuzberg. Im Wrangelkiez waren 1981 neun Häuser und mehrere einzelne Wohnungen besetzt. Eine der ersten und größten Besetzungen fand 1979 im Gebäudekomplex Cuvrystraße 20-27 statt. Zur Befriedung des Hausbesetzerkonflikts trug ein Förderprogramm für Selbsthelfer bei, das der SPD-FDP-Senat 1981 kurz vor seiner Abwahl beschlossen hatte. Drei Jahre zuvor hatte Bausenator Ristock dies noch als „öffentliche Förderung von Schwarzarbeit“ abgelehnt. Die Besetzerbewegung hat in Kreuzberg eine Tradition des autonomen Selbermachens begründet und in ganz Berlin die Abkehr von der Kahlschlagsanierung hin zur behutsamen Stadterneuerung erzwungen.
js
Zum Weiterlesen
Verein SO 36: … außer man tut es! Kreuzberg abgeschrieben aufgestanden, Berlin 1989
Bernd Laurisch: Kein Abriss unter dieser Nummer – 2 Jahre Instandbesetzung in der Cuvrystraße in Berlin-Kreuzberg, Gießen 1981
Internationale Bauausstellung Berlin 1987: Projektübersicht, Berlin 1989
Quartiersmanagement Wrangelkiez – Den Stadtteil gemeinsam gestalten, Broschüre, Berlin 2015 www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/ quartiersmanagement/download/qm_wrangelkiez_brochuere.pdf
08.03.2016