Im Dach der evangelischen Taborgemeinde in Berlin-Kreuzberg lebt eine Wohngemeinschaft, zu der auch der Pfarrer gehört. Eine Selbsthilfegruppe hat die oberen Stockwerke aus- und umgebaut und Solar- und Fotovoltaikanlagen aufs Dach gesetzt.
Der Blick aus dem großen Rosettenfenster im Wohnzimmer der Wohngemeinschaft geht direkt auf die Kreuzberger Wrangelstraße. Das Fenster ist nur eines der vielen Details, die sichtbar machen, dass man sich hier in einem Kirchengebäude befindet. Ein anderes ist der Anblick des Kirchturms direkt vor dem Dachfenster in der Küche. Überall gibt es Schrägen und Verstrebungen.
60 Quadratmeter misst der Raum, bis zu acht Meter hoch reicht die Decke im Giebel. Dieser Gemeinschaftsraum ist die Hauptattraktion der Wohnung. Vom Wohnzimmer aus führt eine Treppe zur nachträglich gebauten oberen Ebene. Von hier geht es auch zu einer großen Dachterrasse. Mehrere Flure und sechs Privaträume verteilen sich auf beide Galerien. Die Zimmer sind zwischen 18 und 32 Quadratmeter groß mit Deckenhöhen zwischen etwa drei Meter im fünften und bis zu vier Meter im neuen sechsten Stock.
Kirchenumbau mit Muskelhypothek
Der neogotische Backsteinbau des Gebäudeensembles Taborkirche wird rechts und links eingerahmt von Mietshäusern und sticht schon von weitem hervor. „Als Anfang der 80er Jahre der Wohnraum in Berlin knapp war, haben wir uns überlegt, wie man die Kirche kompakter und effektiver nutzen kann“, erinnert sich Klaus-Ekkehard Gahlbeck, Pfarrer der Taborgemeinde und WG-Bewohner der ersten Stunde. Außerdem mussten Teile der Kirche wie das Dach ohnehin in naher Zukunft saniert werden. „Im Dachraum befanden sich damals sehr heruntergekommene Wäscheräume und aus Holz gebaute Abstellkammern, die zur darunter liegenden Gemeindeschwesterwohnung gehörten.“ 1985 gründete sich die bauliche Selbsthilfegruppe „Fördergemeinschaft Tabor e.V.“, die von 1986 bis 1988 das Dachgeschoss zu der 289 Quadratmeter großen Wohnung ausbaute. Zu sechst waren sie damals und sind es in veränderter Konstellation auch heute. Der Berliner Senat förderte seinerseits derartige Selbsthilfeprojekte auch finanziell. Eine Auflage war, dass viel in Eigenarbeit geleistet wurde. 20 Prozent der Arbeiten hat der Verein selbst übernommen, 80 Prozent hat der Senat gefördert. Gahlbeck: „Für nicht geförderte Baumaßnahmen haben wir einen Kredit aufgenommen.“ Zunächst wurde auf dem Dachboden alles herausgerissen. Am schwierigsten war das beim alten, sehr großen und lauten Orgelmotor und dem fußbetriebenen Blasebalg. „Wir mussten den Motor mit seinen gusseisernen Schalen auseinanderbauen, um ihn abtransportieren zu können.“ Gahlbeck und seine Mitstreiter hätten den Orgelmotor gerne gerettet, es fand sich jedoch kein Abnehmer.
Neue und vor Ort gegossene Betonträger – einer davon 28 Meter lang – stützen die obere Etage. Die einfachverglasten milchigen Scheiben im Rosettenfenster wurden durch klare und isolierverglaste ersetzt, weitere Dachfenster eingebaut und mit Rigips Wände für Zimmer und Küche gezogen. Dennoch hat das ganze Altbau-Charme: Alle Türen und Türrahmen stammen aus einem Abrisshaus im Wedding. Zwischen zwei bereits vorhandene Dachgauben wurden zwei neue eingebaut. „Raten Sie mal, welche alt und welche neu sind!“, sagt Gahlbeck und lacht. Der Unterschied ist tatsächlich nicht zu erkennen. „Nur einmal hat uns ein fachkundiger Nachbar von gegenüber darauf angesprochen, dass wir die neuen Gauben mit Kunstschiefer gedeckt haben.“ Das würden sie heute aber auch nicht mehr machen. „Das Treppenhaus mussten wir behördlicherseits um eine Etage aufstocken, damit der obere Stock einen eigenen Eingang hat.“ Die Wohnungen durchziehen die gesamte Gebäudelänge und selbst der Kirchturm ist Teil von Wohnungen in den unteren Etagen. Hier befindet sich die Tabor-Kita und der Verein Bürgerhilfe.
Beheizt werden die Wohnräume mit einer Fußbodenheizung, die zum Teil von der Solarkollektoranlage auf dem Dach versorgt wird. Auch für Warmwasser wird die Solaranlage genutzt. Zusätzlich wurde auf dem Dach eines Seitenschiffs eine Fotovoltaikanlage installiert. Der hier erzeugte Strom wird ins Netz eingespeist und vergütet. Seit 2006 gibt es noch eine weitere Solaranlage auf dem Hauptschiff.
Fensterputz mit Schikane
1994 wurde die Kirche – nicht jedoch das Gemeindehaus – unter Denkmalschutz gestellt. „Es war wahrscheinlich unser Glück, dass das erst nach den Umbauten war“, sagt Gahlbeck. Auch so mussten sich die Tabor-Bewohner an einige Auflagen halten. Sie durften zum Beispiel – abgesehen von den beiden Dachgauben – die vordere Fassade nicht verändern und in den mittleren Teil des Rosettenfensters keinen Rahmen einbauen, was erforderlich gewesen wäre, um das Fenster von innen öffnen zu können. Nur durch die kleinen Sichelfenster lässt es sich nun von außen putzen. Eine waghalsige Angelegenheit. „Einer setzt sich in dem untersten Sichelfenster nach draußen, einer als Sicherheitsgewicht von innen auf ihn und ein Dritter reicht alles an, was man zum Putzen braucht.“ Auch die Dachterrasse gehörte zu den Auflagen. „Dadurch verteuerte sich der Umbau enorm.“ Heute seien jedoch alle froh über die Terrasse auf der Rückseite des Gebäudes mit Blick über die Dächer des Wrangelkiezes.
Sechs Menschen zwischen Mitte 30 und Mitte 50 leben in der Wohngemeinschaft: Zwei Juristen, eine Lehrerin, ein Schauspieler, eine Sozialarbeiterin und Pfarrer Gahlbeck. „Zwischenzeitlich waren es auch mal acht, aber bei sechs Privatzimmern waren das eigentlich zu viele.“ Sie alle zahlen eine nach Einkommen gestaffelte Pauschale für Miete, Lebensmittel und sonstige Dinge des täglichen Bedarfs. „Wir leben aus einer gemeinsamen Kasse, das ist heute sehr selten“, sagt Gahlbeck. Die Mieteinnahmen tragen auch zum Erhalt der Kirche bei.
Die Kirchenglocken hört man in der Kirchen-WG übrigens nicht lauter als in den umliegenden Häusern. „Lauter ist nur die Orgel, deren Klang wegen der alten Orgelschächte und Schornsteine durch das ganze Haus geht.“
Kristina Simons
Wohnen in der Kirche?
Es gibt in Berlin mehrere Kirchen, in denen nicht mehr nur Gottesdienste gefeiert werden. Doch während viele von ihnen wie die Passionskirche am Marheinekeplatz oder die Heilig-Kreuz-Kirche an der Blücherstraße zusätzlich für Konzerte und andere Veranstaltungen genutzt werden, findet man dort selten Wohnungen. In katholischen Gotteshäusern gibt es solche Mischnutzungen laut Erzbischöflichem Ordinariat überhaupt nicht. Zu den wenigen bewohnten evangelischen Kirchen gehört die Lutherkirche in der Spandauer Neustadt, die Ende des 19. Jahrhunderts im romanischen Stil und mit gotischen Elementen aus Backstein errichtet wurde. Wegen Bauschäden, feuchten Wänden und einer schwindenden Zahl von Kirchgängern war ihr Unterhalt irgendwann kaum noch zu bewerkstelligen. Bereits 1972 entschied sich die Gemeinde deshalb für den Umbau, dem die Landeskirche allerdings erst nach Jahren zustimmte. Eine Stahlskelettkonstruktion mit leichten Elementen ermöglichte den Einbau des Wohntrakts, den eine mehrschalige schalldämmende Wand vom Gottesdienstbereich trennt. Dieser verkleinerte sich dadurch auf 300 Plätze.
ks
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MieterMagazin 10/08
Die Taborkirche in Berlin-Kreuzberg, rechts und links eingerahmt von Wohnhäusern
alle Fotos: Christian Muhrbeck
Neogotik und Altbau-Charme: In der Kreuzberger Taborkirche wird auch gewohnt
Innenhof und Gemeindehaus der Taborkirche
Hauptattraktionen der Wohnung sind der Blick von der Terrasse und ein 60 Quadratmeter großer Gemeinschaftsraum
Backsteinrosette an der ebenfalls bewohnten Lutherkirche in Spandau
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Die Geschichte von Tabor
Die Taborkirche wurde zwischen 1903 und 1905 zunächst unter Leitung des königliches Baurates und Dombaumeisters Schwartzkopff und nach dessen Tod des königlichen Baurats Bürkner erbaut. Die Baumeister griffen auf Formen der märkischen Backsteingotik aus dem 14. Jahrhundert zurück. Bei ihrem Bau stand die Kirche noch am Görlitzer Ufer 30-31. 1913 wurde die Straße auf Antrag des Gemeindekirchenrates in Taborstraße umbenannt. Der ursprünglich 71 Meter hohe Turm wurde im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff so schwer beschädigt, dass die Spitze 1945 aus Sicherheitsgründen abgetragen werden musste. Seitdem hat der Turm eine Krone statt einer Spitze.
ks
27.11.2016