Plattenbauten wurden zeitgleich in vielen Teilen Europas, Nordafrikas und Asiens gebaut. In Hellersdorf hat sich ein Kompetenzzentrum etabliert, das von Wohnungswirtschaftlern, Kommunalpolitikern und auch Baufachleuten aus aller Welt immer wieder aufgesucht wird.
Gennadij Kaljonow sitzt in einem Glaspavillon nahe dem Hellersdorfer Zentrum. Er schaut auf die umliegenden Plattenbauten: „In Weißrussland haben wir ungefähr 37.000 solcher Häuser, die in industrieller Weise gebaut worden sind. Das sind 35 Prozent der gesamten Wohnfläche im Land. Fast alle sind über 30 Jahre alt.“ Und längst seien sie in einem Zustand, in dem sie mindestens energetisch saniert werden müssten. Aus diesem Grund ist der erfahrene Wohnungsverwalter nach Berlin ins Kompetenzzentrum Großsiedlungen e.V. gekommen. Hier will er sich mit Vertretern anderer ehemaliger Ostblockstaaten und seinen deutschen Kollegen treffen, um über ein Problem zu beraten, das zu den brennendsten in diesen Regionen gehört: Wie lassen sich die gewaltigen Großsiedlungen in Osteuropa und Südosteuropa vor dem weiteren Verfall retten?
Seit 2001 gibt es das Kompetenzzentrum Großsiedlungen. Es hat seinen Sitz im ehemaligen Ausstellungspavillon der Expo 2000. Berlin präsentierte sich damals mit dem „Hellersdorf-Projekt“, einer Strategie zur weiteren Entwicklung der mit 100.000 Einwohnern zweitgrößten Großsiedlung in Deutschland.
Ralf Protz, Leiter des Kompetenzzentrums: „Was uns überrascht hat, war die gewaltige Nachfrage zu diesem Thema: Innerhalb eines halben Jahres hatten wir hier über 20.000 Besucher.“ Und die kamen aus der ganzen Welt. Denn Plattenbausiedlungen wurden längst nicht nur in den sozialistischen Ländern errichtet. Sie entstanden auch in Westeuropa wie in Frankreich und Spanien, in Nordafrika wie Algerien und Tunesien – und in gewaltigen Ausmaßen in China. Sie alle könnten doch von dem Berliner Know-how profitieren, dachten sich die Organisatoren des Expo-Projekts und gründeten 2001 das Kompetenzzentrum für die Erneuerung von Großsiedlungen. Der Pavillon in Hellersdorf ist seitdem Treffpunkt für Konferenzen und Fachgespräche.
Privatisierung führte zu Verfall
Es geht um energetische Sanierung und Klimaschutz, städtebauliche Erneuerung und nicht zuletzt um die soziale Stabilisierung der Quartiere. Die Verbindung nach Ost- und Südosteuropa ist besonders eng. Das hängt mit einer vergleichbaren Entstehungsgeschichte der dortigen Großsiedlungen in den 1960er bis 1980er Jahren zusammen. Auf der anderen Seite gibt es ganz unterschiedliche Entwicklungen nach dem Jahr 1989. Während ostdeutsche Großsiedlungen mit Unterstützung der westdeutschen Wohnungswirtschaft zumeist in kommunalem oder genossenschaftlichem Besitz blieben und zügig saniert wurden, entschieden sich Länder wie Lettland, Rumänien, Russland und die Ukraine anders: Sie verschenkten einen Großteil des Wohnungsbestandes an die Bewohner – oder verkauften ihnen die Wohnungen zu einem symbolischen Preis. Das hat nahezu überall zu weiterem Verfall der oft schon zur Wende maroden Bestände geführt.
Das Kompetenzzentrum, das heute deutschlandweit Partner in der Wohnungswirtschaft, der Bauwirtschaft, in Planungs- und Ingenieurbüros sowie wissenschaftlichen Instituten hat, ist organisatorisch an verschiedenen Projekten in diesen Ländern beteiligt. Im Fokus stehen gegenwärtig die Ukraine und Lettland.
Rosemarie Mieder
8 Millionen leben in Großsiedlungen
2015 veröffentlichte das Kompetenzzentrum eine großangelegte Studie: „Weiterentwicklung großer Wohnsiedlungen“. Sie betrachtet Wohnsiedlungen, die zwischen den 1920er und 1980er Jahren in Deutschland gebaut wurden, errichtet im mehrgeschossigen Mietwohnungsbau und mit mehr als 500 Wohnungen. Deutschlandweit gibt es davon heute rund 4 Millionen Wohnungen für etwa 8 Millionen Menschen. 10 Prozent des deutschen Wohnungsbestandes befinden sich in derartigen Großsiedlungen.
rm
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11.05.2017