Wer staatliche Beihilfe zum Wohnen bekommt, muss Mietobergrenzen einhalten. Anderenfalls droht ein Kostensenkungsverfahren. Weil die Richtwerte angesichts des Berliner Wohnungsmarktes unrealistisch geworden sind, traten zu Beginn des vergangenen Jahres neue Regelungen in Kraft. Damit sind mehr Menschen als bisher vor Wohnungsverlust geschützt.
Sie fühlten sich wie mit dem Rücken an einer Wand, erzählten Sieglinde und Daniel K. Vertretern des Berliner Mietervereins (BMV) auf einer Mieterversammlung im Kosmosviertel. Das Seniorenpaar lebt heute von Grundsicherung. Bereits vor etlichen Jahren waren die beiden nach einer Aufforderung ihres Jobcenters – zur Senkung der Wohnkosten – in die Plattenbauten nahe dem Flughafen Schönefeld umgezogen. Die Zweizimmerwohnung kostete damals 295 Euro nettokalt und lag damit unterhalb der geforderten Richtwerte für eine Übernahme von Kosten für die Unterkunft (KdU).
Das hat sich inzwischen ganz entscheidend geändert: Auf 543 Euro nettokalt ist die Miete des Paares mit der Zeit geklettert. Und nach einer angekündigten Modernisierung soll sich ihre Wohnung um weitere 124 Euro verteuern. Bisher hat ihnen das Jobcenter ihre Kosten immer in vollem Umfang erstattet. Aber wie geht es weiter?
Wer – wie Sieglinde und Daniel K. – über der gesetzlich anerkannten Mietgrenze liegt und keinerlei Möglichkeiten hat, die fehlende Summe selbst aufzubringen, etwa durch Untervermietung, Zahlung aus dem eigenen Budget, Einigung mit dem Vermieter oder Umzug in eine preiswertere Wohnung, für den wird es eng. Das Gesetz sieht eine Schonfrist von sechs Monaten vor, die gestiegenen Kosten zu senken oder auszugleichen. Nur in besonders begründeten Einzelfällen kann dieser Zeitraum verlängert werden.
Weil die den Berechnungen einer solchen „Stoppmiete“ zugrunde liegenden Werte und Bedingungen aber längst nicht mehr realistisch waren, traten zu Beginn des Jahres Neuregelungen der Ausführungsvorschrift Wohnen (AV Wohnen) in Kraft: „Angesichts des galoppierenden Mietenmarktes wollten wir dafür sorgen, dass Leistungsbeziehende in ihren Wohnungen bleiben beziehungsweise eine neue Wohnung anmieten können“, erklärte die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Elke Breitenbach bei einer ersten Bilanz der Senatsverwaltung Mitte August. So wurden sowohl die Richtwerte für Mieten und Wohnflächen angehoben, Härtefalltatbestände erweitert und ein Umzugsvermeidungszuschlag eingeführt.
Neue Härtefall- und Sondertatbestände
Die Bilanz der Senatsverwaltung weist das als deutlichen Erfolg aus: Nun können viel mehr Menschen vor einem drohenden Wohnungsverlust oder vor Armut geschützt werden. Lag beispielsweise Ende vergangenen Jahres noch die Hälfte aller rund 280.000 Hartz-IV-Haushalte in Berlin mit ihrer Miete über der Richtwertgrenze, so ist das nach den neuen Sätzen nur noch etwa jede dritte Bedarfsgemeinschaft. Für viele würden jetzt die neuen Härtefall- und Sondertatbestände gelten, heißt es in der Bilanz der Senatsverwaltung. Danach können die Richtwerte um 10 Prozent überschritten werden, wenn Schwangere oder ältere Menschen über 60 Jahren im Haushalt leben, wenn nahe Angehörige gepflegt werden oder sich die Wohnung aufgrund einer Modernisierung verteuert hat.
Mit dem neuen Regelwerk erhöhte sich auch die zulässige Fläche für Haushalte ab drei Personen, um besser den Lebenssituationen in den Familien entsprechen zu können. Vor allem jedoch profitieren Alleinerziehende mit einem Kind, die erstmals nicht wie ein normaler Haushalt mit zwei Personen berechnet werden. Ihnen wird mehr Wohnfläche und eine höhere Wohnzulage zugestanden. Die Zahl der Single-Eltern, die nun innerhalb der Richtwertgrenze liegen, hat sich damit verdreieinhalbfacht.
„Dass die Sätze deutlich angehoben wurden, kann man nur begrüßen“, erklärt Sigmar Gude, Geschäftsführer der „asum“, die sich sowohl mit Stadtforschung beschäftigt als auch Mieter berät. „Wenn ich mir allerdings die Wohnungssituation in Berlin ansehe, muss ich auch sagen: Ausreichend sind die Neuregelungen nicht“, so Gude. Für jene, die nicht über langjährige Mietverträge verfügen und besonders für die, die jetzt auf dem Markt suchen müssten, reichen die Sätze bei Weitem nicht aus. So zahlen Bedarfsgemeinschaften in Berlin inzwischen durchschnittlich eine Miete von 10,05 pro Quadratmeter (bruttowarm). Die anerkannte Miete dagegen liegt bei 9,79 Euro. Es fehlt zudem an Wohnungen für Ein- und Zweipersonenhaushalte, deren Flächen als angemessen gelten.
Wohnungen bei vielen ALG-II-Haushalten überbelegt
„Die Zahlen belegen, dass Menschen, die Kosten zur Unterkunft erhalten, ihren Wohnkonsum in den letzten Jahren deutlich verringert haben“, folgert Stadtforscher Gude. Sie bewohnten im Durchschnitt 10 Quadratmeter weniger als andere Mieter. Etwa 15.000 ALG-2-Haushalte sind laut asum-Statistik in ihren Wohnungen gravierend überbelegt, betroffen sind davon rund 30.000 Kinder.
Gude: „Etwas Preiswerteres am Wohnungsmarkt zu finden, ist im Grunde aussichtslos.“ Da nutzt auch eine Aufforderung zur Kostensenkung nichts. Und so wurde im ersten Halbjahr 2018 in über 10.300 Fällen ein solches Verfahren gar nicht erst eingeleitet, obwohl die Miete über dem Richtwert lag – weil ein Umzug unwirtschaftlich gewesen wäre, Wohnungslosigkeit drohte oder auch ein Härtefall vorlag.
„Tatsächlich ist es so“, schrieb die Pressestelle der Senatsverwaltung auf eine Anfrage des MieterMagazins, „dass die wenigsten Bedarfsgemeinschaften ihre Kosten für Unterkunft und Heizung durch einen Umzug in eine preiswertere Wohnung senken.“ „Stoppmieten“ sind also immer weniger durchsetzbar.
„Deshalb hätte der Senat den Mut zu einer ganz neuen AV Wohnen aufbringen müssen“, erklärt Sigmar Gude. Und auch Frank Steger, Vorsitzender des Berliner Arbeitslosenzentrums, fordert, die Neuregelung nachzubessern. So sollte die Vorsorge nicht wie bisher alle zwei Jahre auf Basis des Mietspiegels überarbeitet werden, sondern jedes Jahr. „Und in die Berechnung sollte auch der jährliche Bericht des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen einbezogen werden“, so Frank Steger.
Für Menschen wie Sieglinde und Daniel K. dürften die Neuregelungen trotz aller Kritik eine Hilfe sein. Ihnen und anderen Leistungsempfängern, die in den vergangenen Jahren eine Zuschussdeckelung bekommen haben, ist zu raten, noch einmal alles genau zu prüfen. Es gibt inzwischen deutlich mehr Möglichkeiten, um weitere Einschränkungen zu verhindern.
Rosemarie Mieder
Was steht in der „AV Wohnen“
Die AV Wohnen regelt, welche Kosten für Unterkunft und Heizung im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitssuchende und Sozialhilfeberechtigte übernommen werden, welche Kosten als angemessen gelten und welche Verfahren zur Senkung der Kosten angewendet werden. Bei der Neuanmietung einer Wohnung wird unter bestimmten Voraussetzungen ein Zuschlag bis zu 20 Prozent über dem Richtwert gezahlt. Dieser Zuschlag gilt für Wohnungslose sowie von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen. Dazu gehören beispielsweise von Gewalt betroffene Frauen oder Geflüchtete.
rm
04.02.2020