Leitsatz:
Der kündigungsbedingte Verlust der gemieteten Wohnung stellt für Mieter hohen Alters grundsätzlich eine Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB dar, die – im Regelfall – die Fortsetzung des Mietverhältnisses gemäß §§ 574 a Abs. 1, Abs. 2 BGB, 308 a Abs. 1 ZPO gebietet.
LG Berlin vom 12.3.2019 – 67 S 345/18 –
Mitgeteilt von RA Ludger Freienhofer
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Es ging um die Räumung einer von den mittlerweile 87- und 84-jährigen Mietern im Jahre 1997 angemieteten Wohnung. Der Vermieter erklärte im Jahre 2015 die Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarfs. Die Mieter widersprachen der Kündigung unter Verweis auf ihr hohes Alter, ihren beeinträchtigten Gesundheitszustand, ihre langjährige Verwurzelung am Ort der Mietsache und ihre für die Beschaffung von Ersatzwohnraum zu beschränkten finanziellen Mittel.
Das Landgericht entschied in zweiter Instanz, dass den Mietern gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB ein Anspruch auf eine zeitlich unbestimmte Fortsetzung des Mietverhältnisses zustehe. Es könne dabei dahingestellt bleiben, ob die von den Mietern behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen tatsächlich derartig erheblich seien wie vorgetragen. Die Mieter hätten sich berechtigt darauf berufen, dass der Verlust der Wohnung – unabhängig von dessen gesundheitlichen und sonstigen Folgen – für Mieter hohen Alters eine „Härte“ i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB bedeute. Die Vorschrift sei mit Blick auf den durch Artikel 1 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip verkörperten und garantierten Wert- und Achtungsanspruch alter Menschen entsprechend weit auszulegen. Bei über 80-jährigen Mietern sei jedenfalls nach sämtlichen in Betracht zu ziehenden Beurteilungsmaßstäben vom Härtegrund „hohes Alter“ auszugehen.
Der Härtegrund „hohes Alter“ des Mieters gebiete auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters bei nicht auf einer Pflichtverletzung des Mieters beruhenden Kündigung durch den Vermieter in der Regel die unbefristete Fortsetzung des Mietverhältnisses. Eine Interessenabwägung zugunsten des Vermieters komme grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn der Vermieter besonders gewichtige persönliche oder wirtschaftliche Nachteile für den Fall des Fortbestandes des Mietverhältnisses geltend machen könne, die ein den Interessen des betagten Mieters zumindest gleichrangiges Erlangungsinteresse begründeten. Ein solches müsse in seiner Bedeutung für den Vermieter über ein gewöhnliches „berechtigtes Interesse“ zur Kündigung noch hinausgehen und an die Gründe heranreichen, die die Beendigung des Mietverhältnisses aus seiner Sicht berechtigterweise als geradezu notwendig erscheinen lassen. Ein entsprechend hohes Erlangungsinteresse könne der Vermieter hier aber nicht geltend machen, da die von ihm beabsichtigte Eigennutzung der Wohnung zum einen nicht auf eine ganzjährige Nutzung und zum anderen auf bloßen Komfortzuwachs und die Vermeidung unerheblicher wirtschaftlicher Nachteile gerichtet sei.
Urteilstext
Gründe:
I.
Die Parteien streiten über die Räumung und Herausgabe einer von den mittlerweile 87- und 84-jährigen Beklagten im Jahre 1997 von den Rechtsvorgängern der Klägerin angemieteten Wohnung in Tiergarten.
Die Klägerin wurde am 17. Juli 2015 als Eigentümerin der Wohnung in das Grundbuch eingetragen. Sie erklärte am 3. August 2015 die Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarfs zum 31. Juli 2016 mit der Begründung, sie wolle zukünftig nicht mehr zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn zur Miete, sondern stattdessen in der in ihrem Eigentum stehenden und von den Beklagten innegehaltenen Wohnung leben. Die Beklagten widersprachen der Kündigung unter Verweis auf ihr hohes Alter, ihren beeinträchtigten Gesundheitszustand, ihre langjährige Verwurzelung am Ort der Mietsache und ihre für die Beschaffung von Ersatzwohnraum zu beschränkten finanziellen Mittel mit Schreiben vom 26. Mai 2016.
Die Klägerin ließ in der Folge am 26. September und 5. Dezember 2016 zwei weitere Eigenbedarfskündigungen sowie am 26. Juni 2016, 5. Dezember 2016, 14. März 2017, 8. Juni 2017, 16. Februar 2018 und 23. August 2018 sechs weitere verhaltensbedingte Kündigungen aussprechen, die überwiegend auf ein angeblich unredliches (Prozess-)Verhalten der Beklagten und in einem Fall auf eine angebliche Tätlichkeit der Beklagten zu 1) gestützt waren.
Das Amtsgericht hat die von der Klägerin erhobene Räumungsklage abgewiesen, nachdem es zunächst ein Sachverständigengutachten über die für die Beklagten zu besorgenden Kündigungsfolgen hatte einholen lassen. Die Eigenbedarfskündigungen seien zwar begründet. Die mittlerweile erheblich eingeschränkte Gesundheit der Beklagten gebiete aber auch unter Würdigung der Interessen der Klägerin eine Fortsetzung des Mietverhältnisses. Die verhaltensbedingten Kündigungen seien sämtlich unwirksam, da die behaupteten – und von den Beklagten bestrittenen – Pflichtverletzungen nicht hinreichend erheblich seien. Über eine von den Beklagten hilfsweise erhobene Widerklage auf Feststellung der Vertragsfortsetzung sei nicht zu befinden, da diese unter der innerprozessualen Bedingung der Stattgabe des Räumungsantrags stünde. Diese Bedingung sei nicht eingetreten. Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere zum erstinstanzlichen Vorbringen und zu den im ersten Rechtszug gestellten Anträgen, wird auf das am 26. Oktober 2018 verkündete Urteil des Amtsgerichts (Bl. III/9-22 d.A.), das eingeholte Sachverständigengutachten (Bl. II/69-121 d.A., II/242-259 d.A.) und die zwischen den Parteien erstinstanzlich gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Gegen das ihr am 12. November 2018 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit am 16. November 2018 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 25. Januar 2019 mit am 25. Januar 2019 eingegangenem Schriftsatz begründet.
Die Klägerin ist der Auffassung, nicht nur die ausgesprochenen Eigenbedarfs-, sondern auch die verhaltensbedingten Kündigungen seien wirksam. Gründe, das Mietverhältnis fortzusetzen, bestünden nicht. Der Gesundheitszustand der Beklagten sei nicht erheblich beeinträchtigt; die gegenteiligen Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen seien unverwertbar, da das Gutachten verfahrensfehlerhaft erstellt worden sei.
Sie beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, die im Hause X gelegene Wohnung zu räumen und geräumt an die Klägerin herauszugeben sowie die Hilfswiderklage abzuweisen.
Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen und sind der Auffassung, das Mietverhältnis sei auf ihren Widerspruch hin fortzusetzen. Die verhaltensbedingten Kündigungen seien sämtlich unwirksam.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zwischen den Parteien zweitinstanzlich gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
Die Berufung ist unbegründet.
Der Klägerin steht der gegenüber den Beklagten geltend gemachte Räumungs- und Herausgabeanspruch gemäß den §§ 985, 546 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB nicht zu. Keine der streitgegenständlichen Kündigungen hat das Mietverhältnis beendet.
Die am 3. August 2015, 26. September 2016 und 5. Dezember 2016 ausgesprochenen Eigenbedarfskündigungen haben nicht zu einer Beendigung des zwischen den Parteien bestehenden Mietverhältnisses geführt. Das Amtsgericht hat auf den Widerspruch der Beklagten zutreffend gemäß § 308a Abs. 1 ZPO i.V.m. § 574a Abs. 2 Satz 1 und 2 BGB die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit angeordnet. Dagegen vermag die Berufung nichts zu erinnern.
Die Beklagten haben den Kündigungen gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1, 574a Abs. 1 Satz 1 BGB jeweils form- und fristgerecht i.S.d. § 574b BGB widersprochen. Ausreichend war bereits der gegen die zeitlich erste Eigenbedarfskündigung gerichtete schriftliche Widerspruch vom 26. Mai 2016. Auf die schriftsätzlich erklärten Wiederholungskündigungen war kein neuerlicher Widerspruch zu erheben, da sich weder der Kündigungsgrund noch die geltend gemachten Widerspruchsgründe geändert haben. Unabhängig davon haben die Beklagten im gesamten Rechtsstreit an ihren im Widerspruch vom 26. Mai 2016 geltend gemachten Widerspruchsgründen festgehalten und damit zumindest konkludent einen neuerlichen Widerspruch erhoben. Auch dieser entsprach dem Schriftformerfordernis des § 574b Abs. 1 Satz 1 Satz BGB, da die der Klägerin in beglaubigter Abschrift zugestellten Abschriften der Schriftsätze der Beklagten von deren Prozessbevollmächtigten unterzeichnet sind (vgl. BAG, Urt. v. 21. März 1973 – 4 AZR 225/72, MDR 1973, 794, juris Tz. 25). Auf die Rechtzeitigkeit dieses Widerspruchs kommt es nicht an, nachdem sich die Klägerin bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht auf das gemäß § 574 b Abs. 2 Satz 1 BGB als Einrede geltend zu machende Ablehnungsrecht der Verspätung des Widerspruchs berufen hat (vgl. Emanuel, in: BeckOGK, BGB, Stand: 1. Januar 2019, § 574b Rz. 17 m.w.N.).
Die Widersprüche der Beklagten begründen einen Anspruch auf Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit.
Gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB kann der Mieter der Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Diese Voraussetzungen sind – wie das Amtsgericht im Ergebnis ebenfalls zu Recht erkannt hat – erfüllt.
Bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der §§ 573 ff. BGB haben die Zivilgerichte neben dem Erlangungsinteresse des Vermieters auch das Bestandsinteresse des Mieters zu berücksichtigen, diese widerstreitenden Belange gegeneinander abzuwägen und in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen (st. Rspr; vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 9. Oktober 2014 – 1 BvR 2235/14, NZM 2015, 161, juris Tz. 12). Unter einer Härte i.S.d § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB sind davon ausgehend alle dem Mieter aus der Vertragsbeendigung erwachsenden Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art zu verstehen, die in Folge der Vertragsbeendigung auftreten können (vgl. Kammer, Urt. v. 7. Mai 2015 – 67 S 117/14, NJW-RR 2016, 18, juris Tz. 24; Blank, in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 13. Aufl. 2017, § 574 Rz. 20 m.w.N.). Dabei müssen die dem Mieter entstehenden Nachteile nicht mit absoluter Sicherheit feststehen; insbesondere bei gesundheitlichen Nachteilen genügt bereits die ernsthafte Gefahr ihres Eintritts (vgl. BGH, Urt. v. 16. Oktober 2013 – VIII ZR 57/13, NJW-RR 2014, 78, juris Tz. 20; Kammer, a.a.O.; Blank, a.a.O.). Für die Annahme einer Härte ist es erforderlich, allerdings gleichzeitig auch ausreichend, dass sich die Konsequenzen, die für den Mieter mit einem Umzug verbunden wären, von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urt. v. 15. März 2017 – VIII ZR 270/15, NJW 2017, 1474, juris Tz. 25).
Gemessen an diesen Grundsätzen begründet die kündigungsbedingte Beendigung des Mietverhältnisses für beide Beklagte eine Härte.
Insoweit kann zunächst dahinstehen, ob der vom Amtsgericht nach Durchführung einer aufwändigen Beweiserhebung festgestellte gesundheitliche Zustand der Beklagten die Annahme eine Härte rechtfertigt, ebenso, ob die gegen die erstinstanzliche Beweiserhebung erhobenen verfahrensrechtlichen Einwände eine neuerliche Beweisaufnahme – und medizinische Examination der mittlerweile 87 und 84 Jahre alten Beklagten – erfordert oder wegen der Vielzahl der eingereichten und den Sachvortrag der Beklagten stützender und in ihrer Authentizität unbestrittener ärztlicher Atteste und amtlicher Bescheinigungen der Beweis des von der Klägerin in Abrede gestellten schlechten Gesundheitszustandes der Beklagten bereits prima facie geführt ist. Die Kammer hat ebensowenig zu entscheiden, ob die Beklagten sich zur Fortsetzung des Mietverhältnisses mit Erfolg auf den gemäß § 574 Abs. 2 BGB beachtlichen Härtegrund fehlenden Ersatzwohnraums berufen können und ihnen dabei mit Blick auf die Mietenbegrenzungsverordnung vom 28. April 2015 (GVBl S. 2015, 101) Darlegungs- oder Beweiserleichterungen zu Gute kommen (vgl. dazu Kammer, Urt. v. 25. Januar 2018 – 67 S 272/17, NJW-RR 2018, 1034, juris Tz. 9; LG Berlin, Urt. v. 9. Mai 2018 – 64 S 176/17, WuM 2018, 584, juris Tz. 13).
Die kündigungsbedingte Beendigung des Mietverhältnisses stellt für beide Beklagten unabhängig von den gesundheitlichen Folgen der Vertragsbeendigung aus persönlichen Gründen nicht lediglich eine „Unannehmlichkeit“, sondern eine Härte dar. Sie liegt darin begründet, dass die Beklagten den Besitz an ihrer Wohnung kündigungsbedingt zu einem Zeitpunkt aufgeben müssten, in dem sich beide bereits in einem hohen Lebensalter befinden.
Ob das hohe Alter des Mieters zum Zeitpunkt der kündigungsbedingten Beendigung des Mietvertrages ausreicht, um eine nicht zu rechtfertigende Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB zu begründen, ist in Rechtsprechung und Literatur allerdings umstritten. Während allein das hohe Lebensalter des Mieters nach einer weit verbreiteten Auffassung nicht für ausreichend erachtet wird, um eine Vertragsfortsetzung gemäß den §§ 574 Abs. 1 Satz 1, 574a Abs. 1 Satz 1 BGB zu rechtfertigen (vgl. KG Urt. v. 6. Mai 2004 – 8 U 288/03, DWW 2004, 189, juris Tz. 5; OLG Köln, Urt. v. 10. März 2003 – 16 U 72/02, ZMR 2004, 33, juris Tz. 34; LG Berlin, Urt. v. 22. Juni 1999 – 64 S 32/99, MM 1999, 351; Kammer, Urteil v. 29. August 2011 – 67 S 15/09, ZMR 2012, 15; juris Tz. 40; Blank, a.a.O., § 574 Rz. 41; Rolfs, in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 574 Rz. 37 m.w.N.), genügt es nach der Gegenauffassung, um die §§ 574 ff. BGB zu seinen Gunsten zur Anwendung zu bringen (vgl. LG Hannover, Urt. v. 21. Januar 1988 – 3 S 341/87, WuM 1989, 298, juris Tz. 2; LG Köln, Urt. v. 1. Oktober 1991 – 12 S 181/91, WuM 1992, 247; AG Hanau, Urt. v. 25. Januar 1989 – 32 C 1671/88, WuM 1989, 239, juris Tz. 8). Der letztgenannten Auffassung gebührt – zumindest im Grundsatz – der Vorzug. Sie steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH, der es nicht beanstandet, das hohe Alter des Mieters jedenfalls in dem auch hier gegebenen Falle der langjährigen Verwurzelung des Mieters am Ort der Mietsache im Wege einer generalisierenden Wertung als Härte zu dessen Gunsten zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urt. v. 20. Oktober 2004 – VIII ZR 246/03, NZM 2005, 143, juris Tz. 7, 11).
Der kündigungsbedingte Verlust der gemieteten Wohnung stellt für Mieter hohen Alters grundsätzlich eine Härte dar, die im hier ebenfalls gegebenen Regelfall die Fortsetzung des Mietverhältnisses gemäß den §§ 574 ff. BGB gebietet. Soweit die Kammer in der Vergangenheit davon abweichend entschieden haben sollte, hält sie daran nicht weiter fest.
Es entspricht der von der Kammer geteilten Rechtsprechung des BGH, dass ein Mieter einen nicht zu ersetzenden Nachteil erleidet, wenn er den Besitz an der von ihm gemieteten Wohnung als Mittelpunkt seiner privaten Existenz verliert (vgl. BGH, Beschl. v. 18. Mai 2010 – VIII ZB 9/10, GE 2010, 1055, juris Tz. 2). Dieser Nachteil ist für Mieter jedweden Lebensalters erheblich und unwiederbringlich (vgl. BGH, a.a.O.). Von den nachteiligen Folgen des unfreiwilligen Verlustes der eigenen Wohnung sind alte Menschen indes ungleich härter betroffen, da sie sich bereits in einer Lebensphase befinden, die zusätzlich von zahlreichen sonstigen Beeinträchtigungen beeinflusst ist.
Die nachteiligen Veränderungen, die das Altern ausmachen und mitbestimmen, sind vielfältiger Natur. Auf biologischer Ebene geht das Altern mit einer Vielzahl kumulativer molekularer und zellulärer Schäden einher, die im Laufe der Zeit zu einer allmählichen Minderung der physiologischen Reserven, einer höheren Anfälligkeit für zahlreiche Krankheiten und zu einem allgemeinen Nachlassen der individuellen Kapazitäten und schließlich zum Tode führen (vgl. World Health Organisation, in: World report on ageing and health, S. 25, URL: https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/186463/9789240694811_eng.pdf?sequence=1 (Stand: 11. März 2019)). Bereits nach dem Erreichen des sechzigsten Lebensjahrs sind Behinderungen und Todesfälle weitgehend auf den altersbedingten Verlust des Gehörs, des Sehvermögens, der Mobilität sowie auf nichtübertragbare Krankheiten wie Herzerkrankungen, Schlaganfälle, chronische Atemwegserkrankungen, Krebserkrankungen und Demenz zurückzuführen. Im Alter besteht zudem ein höheres Risiko der Multimorbidität; in Deutschland leidet fast ein Viertel der 70- bis 85-Jährigen an fünf oder mehr Erkrankungen gleichzeitig. Über den allmählichen biologischen Niedergang hinaus ist das Alter aber auch von erheblichen psychosozialen Veränderungen gekennzeichnet. Dazu gehören nicht nur die Veränderungen der Rolle des alten Menschen und seiner gesellschaftlichen Stellung. Für einen alten Menschen besteht die zusätzliche Notwendigkeit, den Verlust enger persönlicher Beziehungen und die damit verbundene Zunahme von sozialer Isolierung und Einsamkeit zu verkraften (vgl. World Health Organisation, a.a.O.).
In dieser Lebensphase allgemein nachlassender Kräfte und zunehmender Beschränkung der persönlichen Möglichkeiten stellt der unfreiwillige Verlust der eigenen Wohnung für einen alten Menschen eine schwerwiegende Zäsur dar, die wegen der altersbedingt verengten und sich fortlaufend weiter verengenden Lebensperspektive die erfolgreiche neuerliche Begründung eines auf Dauer angelegten Lebensmittelpunktes unter gleichzeitigem Erhalt der bestehenden sozialen Strukturen in der verbleibenden Lebensspanne nicht nur ins Ungewisse rückt, sondern überwiegend unwahrscheinlich macht. Damit aber gehen die Nachteile, die für alte Menschen mit dem Verlust ihrer Wohnung verbunden sind, über die Unannehmlichkeiten, die für Menschen in einem jüngeren Alter typischerweise mit einem Wechsel der Wohnung einhergehen, bei Weitem hinaus.
Diese Wertung steht in Einklang mit dem in Art. 25 GrCh verbrieften Schutz älterer Menschen. Nach Art. 25 GrCh ist das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben sowie auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben anzuerkennen und zu achten. Der Schutzbereich des Art. 25 GrCh umfasst neben der materiellen auch die personale Unabhängigkeit alter Menschen, die eine selbstbestimmte Lebensführung trotz altersbedingter Einschränkungen ebenso wie die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben ermöglichen soll. Der besondere grundrechtliche Schutz ist dadurch gerechtfertigt, dass das Alter als selbstständiger Lebensabschnitt besondere Bedürfnisse und Einschränkungen mit sich bringt (vgl. Lemke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 25 Rz. 1, 4). Dieses Schutzkonzept würde ohne hinreichende Rechtfertigung verfehlt, wenn jedes für die Begründung einer ordentlichen Kündigung genügende Erlangungsinteresse des Vermieters grundsätzlich zur abwägungsfesten Beendigung des mit einem alten Menschen bestehenden Mietvertrages führen würde und erst in den Fällen eine Vertragsfortsetzung auf Grundlage des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB in Betracht käme, in denen der alte Mensch – auf Grund seines körperlichen oder geistigen Zustands – nicht mehr in der Lage wäre, eine Ersatzwohnung zu finden und dorthin umzuziehen oder sich sein Gesundheitszustand durch den Umzug erheblich verschlechtern würden (sog. Räumungsunfähigkeit, vgl. dazu Blank, a.a.O., Rz. 47 m.w.N.).
Ob Art. 25 GrCh, der als sog. Grundsatz i.S.d. Art. 52 Abs. 5 GrCh ausgebildet ist (vgl. Jarass, in: ders., Charta der Grundrechte der EU, 3. Auflage 2016, § 25 Rz. 3), über Art. 51 Abs. 1 GrCH unmittelbaren Einfluss auf die Auslegung von § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB gewinnt, da womöglich lediglich abstrakte Bezüge von mitgliedstaatlichen Regelungen zum Unionsrecht oder bloße mittelbar-faktische Auswirkungen für die Anwendung der GrCH ausreichen (vgl. EuGH, Urt. v. 26. Februar 2013 – C-617/10, NJW 2013, 1415 , juris Tz. 49 (Åkerberg Fransson)), oder der Anwendungsbereich der GrCH auf Grundlage der eingrenzenden Rechtsprechung des BVerfG erheblich enger zu ziehen ist (vgl. BVerfG, Urt. v. 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07, NJW 2013, 1499, juris Tz. 91), kann hier dahinstehen.
Das hohe Alter des Mieters stellt unabhängig von der Anwendbarkeit und Reichweite der Art. 25, 51 Abs. 1 GrCH einen tauglichen Härtegrund i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB dar, da zumindest die Ausstrahlungswirkung der in der nationalen Verfassung verankerten Grundrechte und damit auch das verfassungsrechtlich geschützte Interesse des Mieters am Bestand des Mietverhältnisses bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe – wie dem Tatbestandsmerkmal „Härte“ – gesonderte Berücksichtigung zu finden haben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26. Mai 1993 – 1 BvR 208/93, BVerfGE 89, 1, juris Tz. 30 f. (zu § 564b BGB a.F.); Beschl. v. 6. Dezember 2005 – 1 BvR 1905/02, BVerfGE 115, 51, juris Tz. 45 (zur Ausstrahlungswirkung im Allgemeinen); BGH, Urt. v. 9. Februar 2011 – VIII ZR 155/10, NJW 2011, 1135, juris Tz. 19 (zu § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB); Kammer, Beschl. v. 25. April 2017 – 67 S 70/17, WuM 2017, 347, juris Tz. 7 (zu § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB)). Damit ist auch dem Wesensgehalt von Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip sowie dem durch beide verkörperten Schutz der Menschenwürde, der den Staat zu einer würdefreundlichen Ausgestaltung der Gesamtrechtsordnung verpflichtet und ihn dafür Sorge tragen lässt, dass der Eigenwert des Einzelnen im Privatrecht einen angemessenen Platz findet, bei der Auslegung und Anwendung des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB im Wege unmittelbarer Drittwirkung Rechnung zu tragen. Letztere verpflichtet die Gerichte, die in Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip verkörperten Werte bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln und anderer wertausfüllungsbedürftiger Vorschriften des einfachen Rechts zur Geltung bringen (vgl. Dreier, in ders., GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I Rz. 155 ff.; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 1 I Rz. 116 m.w.N).
Gemessen an diesen Grundsätzen gebieten es Art. 1 Abs. 1 GG und das als Interpretationsmaßstab der Grundrechte heranzuziehende Sozialstaatsprinzip, die kündigungsbedingte Aufgabe der gemieteten Wohnung für Mieter vorgerückten Alters als eine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB zu berücksichtigen, die sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abhebt:
Art. 1 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip verpflichten den Staat, die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz zu erhalten. Der Staat hat deshalb jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht (st. Rspr., vgl. nur BVerfG, Urt. v. 21. Juni 1977 – 1 BvL 14/76, NJW 1977, 1525, juris Tz. 146 ff. (lebenslange Freiheitsstrafe); Urt. v. 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, NJW 2010, 505, juris Tz. 133 ff. (Sozialleistungen)). Dieser Grundsatz beansprucht herausgehobene Bedeutung im besonders grundrechtsintensiven Bereich der menschlichen Wohn- und Lebenssituation (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10. Oktober 2017 – 1 BvR 617/14, NJW 2017, 3770, juris Tz. 19). Mit einer so verstandenen Menschenwürde wäre es aber bereits dem Grunde nach nicht zu vereinbaren, wenn die Kontinuität der auf einem unbefristeten Mietvertrag beruhenden Wohn- und Lebenssituation für Menschen im Alter nicht weitestgehend gewahrt würde, sondern ihnen stattdessen die Wohnung als bisheriger Lebensmittelpunkt einschließlich ihres sozialen Kontextes entzogen werden könnte, ohne dass für die alten Menschen entweder eine konkrete und realisierbare Chance bestünde, ihre private Existenz anderen Ortes und unter Erhalt der am Ort der Mietsache bestehenden sozialen Strukturen ohne wesentliche Abstriche erneut und auf Dauer wieder aufzubauen oder ihr hohes Alter wenigstens im Rahmen einer gesetzlich angeordneten Interessenabwägung – über § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB – hinreichende Berücksichtigung finden zu lassen.
An einer Chance zu einem auf Dauer angelegten und die bisherige Lebensqualität im Wesentlichen erhaltenden privaten Neuanfang fehlt es bei Menschen hohen Alters bereits deshalb, weil ihre Restlebenserwartung zum Zeitpunkt der Beendigung des Mietverhältnisses im Vergleich zu jüngeren Menschen erheblich reduziert oder – gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung – sogar bereits aufgebraucht ist. Es tritt hinzu, dass die häufig – und auch hier – jahrzehntelange soziale Verwurzelung am Ort der Mietsache den Erhalt oder gleichwertigen Neuaufbau sozialer Strukturen andernorts behindert oder sogar ausschließt und angemessener Ersatzwohnraum – zumindest in den von den Landesregierungen auf Grundlage der §§ 556d Abs. 1, 558 Abs. 3 Satz 2, 577a Abs. 2 BGB bestimmten Gemeinden – nicht oder allenfalls unter erheblichen Schwierigkeiten zu beschaffen ist (vgl. dazu Kammer, Urt. v. 25. Januar 2018 – 67 S 272/17, NJW-RR 2018, 1034, juris Tz. 9; LG Berlin, Urt. v. 9. Mai 2018 – 64 S 176/17, WuM 2018, 584, juris Tz. 13). Ein gegenteiliges Auslegungsverständnis würde alte Menschen in einer späten Lebensphase – und häufig zum wiederholten Male – in einen Kampf um eine selbstbestimmte persönliche Existenz zwingen, der zusätzlich dadurch bestimmt und erschwert wäre, dass die Chancen zur erfolgreichen Behauptung am Wohnungsmarkt altersbedingt erheblich geringer ausgeprägt sind als in früheren Lebensphasen (vgl. Blank, a.a.O., Rz. 47). Es würde gleichzeitig zur Folge haben, dass das Leben alter Menschen im hier maßgeblichen Kontext in seinen letzten Jahren durch ein sich häufig über mehrere Instanzen und Jahre erstreckendes und in seinem Ausgang vollständig ungewisses Gerichtsverfahren über den Erhalt ihres bisherigen Lebensmittelpunktes geprägt wäre. In diesem obläge ihnen regelmäßig die zusätzliche Pflicht, zum Nachweis ihrer Räumungsunfähigkeit unter zusätzlicher Aufbürdung der Beweis- und Kostenlast die sachverständige Examination der eigenen Person unter Offenlegung sämtlicher höchstpersönlicher medizinischer und psychologischer Anknüpfungstatsachen zu erdulden, anstatt zur Abwägung mit dem Erlangungsinteresse des Vermieters auf ihr hohes Lebensalter verweisen zu dürfen (vgl. BGH, Urt. v. 15. März 2017 – VIII ZR 270/15, NJW 2017, 1474, juris Tz. 27, 29, 31 (zur Erforderlichkeit einer Beweiserhebung bei einem bereits altersbedingt gebrechlichen 87-jährigen Mieter)). Beides aber würde dem durch Art. 1 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip verkörperten und garantierten Wert- und Achtungsanspruch alter Menschen nicht gerecht.
Die von diesen Grundsätzen ausgehende Abwägung des Erlangungsinteresses der Klägerin gegen die mit dem Verlust der streitgegenständlichen Wohnung für die Beklagten verbundenen Härten fällt gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB zu Lasten der Klägerin aus.
Die Beklagten können sich zu zunächst zu ihren Gunsten auf den Härtegrund hohen Alters berufen. Insoweit bedarf es keiner abschließenden Entscheidung der Kammer, ob, gegebenenfalls ab welcher Grenze von einem hohen Lebensalter auszugehen ist, ebensowenig, ob ein solches – wie etwa im französischen Mietrecht – schon am Überschreiten des 65. Lebensjahr des Mieters (vgl. Article 15 III, loi n° 89-462 du 6 juillet 1989 tendant à améliorer les rapports locatifs et portant modification de la loi n° 86-1290 du 23 décembre 1986), der Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung, dem Ruhestandsalter für Beamte oder erst an den – allerdings uneinheitlichen – internationalen Einstufungen menschlichen Alters, der durchschnittlichen Lebenserwartung oder an der allgemeinen Verkehrsanschauung festzumachen ist. Die Beklagten befanden sich bereits an dem für die zeitlich erste Eigenbedarfskündigung maßgeblichen Beendigungszeitpunkt in einem Alter von über 80 Jahren; ein solches Lebensalter ist nach allen in Betracht kommenden Beurteilungsmaßstäben, insbesondere nach der allgemeinen Verkehrsanschauung, hoch.
Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung kommt dem Verlust der Wohnung im hohen Alter auch für die Beklagten das grundsätzlich aufgezeigte erhebliche Gewicht zu. Eine davon abweichende Beurteilung käme nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn ein Mieter hohen Alters den Verlust der gekündigten Wohnung ohne Weiteres kompensieren könnte, indem er entweder über mehrere Wohnsitze verfügte oder es ihm unschwer möglich wäre, seine private Existenz auf dem freien Wohnungsmarkt in der Nähe zur bisherigen Mietsache und unter Erhalt der bestehenden sozialen Strukturen ohne wesentliche Abstriche wieder aufzubauen. Hier fehlt es an beiden Ausnahmevoraussetzungen. Weder verfügen die Beklagten über eine weitere Wohnung noch erlaubt der sich immer weiter verschließende Wohnungsmarkt in Berlin unschwer die erfolgreiche Anmietung angemessenen Ersatzwohnraums, erst recht nicht in der Nähe zur bisherigen Mietsache (vgl. Kammer, Urt. v. 25. Januar 2018 – 67 S 272/17, NJW-RR 2018, 1034, juris Tz. 9; LG Berlin, Urt. v. 9. Mai 2018 – 64 S 176/17, WuM 2018, 584, juris Tz. 13).
Das hohe Alter des Mieters gebietet gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters in der Regel – und auch hier – die Fortsetzung des Mietverhältnisses. Zwar ist auch dem Erlangungsinteresse der Klägerin ein beträchtliches Gewicht nicht abzusprechen, da sie während ihrer Aufenthalte in Berlin nicht mehr wie bislang gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn in einer Mietwohnung, sondern stattdessen alleine in der streitgegenständlichen Wohnung und zudem „nicht mehr zur Miete“ wohnen möchte. Diese Lebensplanung ist zu respektieren. Das dadurch begründete Erlangungsinteresse bleibt aber weit hinter dem Interesse der Beklagten an einem Verbleib in der Mietsache zurück:
Bei der Gewichtung des Vermieterinteresses an der Kündigung wegen Eigenbedarfs ist vor allem die Dringlichkeit des geltend gemachten Eigenbedarfs von Bedeutung (vgl. BGH, Urt. v. 15. März 2017 – VIII ZR 270/15, NJW 2017, 1474, juris Tz. 30). Diese ist bei der Klägerin vergleichsweise gering ausgeprägt, da ihr Eigennutzungswunsch zum einen nicht auf eine ganzjährige Nutzung und zum anderen auf bloßen Komfortzuwachs sowie die Vermeidung etwaiger wirtschaftlicher Nachteile durch die Anmietung einer weiteren Wohnung gerichtet ist. Das reicht weder grundsätzlich noch hier aus, um dem Interesse eines Menschen hohen Alters an der Fortsetzung seines – zudem langjährigen – Mietverhältnisses mit Erfolg zu begegnen. Erforderlich sind vielmehr besonders gewichtige persönliche oder wirtschaftliche Nachteile des Vermieters für den Fall des Fortbestandes des Mietverhältnisses, die ein den Interessen des betagten Mieters zumindest gleichrangiges Erlangungsinteresse begründen. Ein solches muss in seiner Bedeutung für den Vermieter über ein gewöhnliches „berechtigtes Interesse“ noch hinausgehen und an die Gründe heranreichen, die die Beendigung des Mietverhältnisses aus seiner Sicht berechtigterweise als geradezu notwendig erscheinen lassen (vgl. dazu BGH, Urt. v. 16. Oktober 2013 – VIII ZR 57/13, NJW-RR 2014, 78, juris Tz. 15). Die auf Seiten des Vermieters dafür erforderlichen persönlichen oder wirtschaftlichen Ausnahmeumstände sind hier jedoch noch nicht einmal ansatzweise erfüllt.
Die Klägerin kann sich zur Beendigung des Mietverhältnisses auch nicht mit Erfolg auf die von ihr ausgesprochenen verhaltensbedingten Kündigungen vom 26. Juni 2016, 5. Dezember 2016, 14. März 2017, 8. Juni 2017, 16. Februar 2018 und 23. August 2018 stützen. Sie sind sowohl als außerordentliche als auch als ordentliche Kündigungen unwirksam.
Soweit die Kündigungen – mit Ausnahme der Kündigung vom 23. August 2018 – darauf gestützt sind, dass die Beklagten in ihrem Widerspruch vom 26. Mai 2016 und im Verlaufe des Rechtsstreits ihre wirtschaftliche und gesundheitliche Situation und die damit in Zusammenhang stehenden Kündigungsfolgen angeblich überzeichnet hätten, fehlt es an der für eine kündigungsbedingte Vertragsbeendigung erforderlichen Erheblichkeit der Pflichtverletzung. Zwar kann eine Kündigung des Mietverhältnisses wegen unredlichen (Prozess-)Verhalten des Mieters gerechtfertigt sein. Dafür indes muss dessen wahrheitswidriges Vorbringen im Falle seiner Berücksichtigung einer erfolgreichen Geltendmachung des vom Vermieter verfolgten Räumungsanspruch entgegenstehen (vgl. Kammer, Beschl. v. 15. April 2014 – 67 S 81/14, ZMR 2014, 788, juris Tz. 10). An diesen Voraussetzungen fehlt es, da der von der Klägerin verfolgte Räumungsanspruch unabhängig von der zwischen den Parteien im Einzelnen streitigen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Situation der Beklagten nicht besteht.
Die Kündigung vom 23. August 2018 ist ebenfalls unwirksam. Es kann dahinstehen, ob die zum behaupteten Tatzeitpunkt 86-jährige Beklage zu 1) tatsächlich mit ihrer Handtasche nach der Klägerin geschlagen und sie mit den russischen Schimpfwörtern für „Biest, Bastard, Schlampe und Hündin“ bedacht hat. Auch wenn diese Handlungen – selbstverständlich – eine Pflichtverletzung darstellten, ermangelte es ihnen an der für die außerordentliche oder ordentliche Beendigung des Mietverhältnisses erforderlichen Erheblichkeit. Denn zu Gunsten der Beklagten fallen nicht nur die langjährige Dauer des im Wesentlichen unbeanstandeten Mietverhältnisses, das Fehlen einer Wiederholungsgefahr und der Umstand ins Gewicht, dass beide Beklagten nicht einschlägig abgemahnt waren. Es kommt zu Lasten der Klägerin hinzu, dass sich die behauptete Tat als Folge des von ihr auf die Beklagten in jeder Hinsicht unangemessen ausgeübten Überwachungsdrucks darstellt. Sie hat die greisen Beklagten nicht nur in einem mehrjährigen Zeitraum durch unterschiedliche Hausnachbarn beobachten lassen, sondern sogar die heimliche Erstellung von detaillierten Bewegungsprofilen und Videoaufzeichnungen gebilligt. Weiterhin hat sie gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn die zu diesem Zeitpunkt bereits durch den mehrjährigen Räumungsrechtsstreit nicht unerheblich belastete Beklagte zu 1) auf öffentlichem Straßengrund abgepasst, um ihr Vorhaltungen zu ihrem angeblich uneingeschränkten Gesundheitszustand zu machen. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei dem von der Klägerin behaupteten Verhalten der Beklagten zu 1) um eine einmalige und zudem nachvollziehbare Entgleisung, die eine Kündigung des Mietverhältnisses nicht rechtfertigt.
Die Berufung hat schließlich auch keinen Erfolg, soweit sie auf die Abweisung der von den Beklagten hilfsweise erhobenen Widerklage auf Feststellung der Fortsetzung des Mietverhältnisses gerichtet ist. Die innerprozessuale Bedingung für eine Entscheidung ist nicht eingetreten, da der von der Klägerin geltend gemachte Räumungsanspruch in der Hauptsache abgewiesen wurde. Auch das hat das Amtsgericht zutreffend erkannt.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Kosten der erstinstanzlichen Beweiserhebung sind dem Antrag der Klägerin zuwider nicht gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG niederzuschlagen. Gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG werden Kosten nicht erhoben, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären. Dafür ist jedoch ein erheblicher Verfahrensverstoß erheblich (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschl. v. 4. Mai 2005 – XII ZR 217/04, NJW-RR 2005, 1230, juris Tz. 4). Daran fehlt es. Denn das Amtsgericht hat aus seiner materiell-rechtlichen Sicht folgerichtig und zudem verfahrensfehlerfrei die gesundheitlichen Folgen einer Vertragsbeendigung für die Beklagten sachverständig begutachten lassen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10 Satz 1 und 2, 711 ZPO.
Gründe, die Revision gemäß § 543 ZPO zuzulassen, bestehen nicht. Die von der Klägerin erklärten verhaltensbedingten Kündigungen werfen keine abstrakten Rechtsfragen auf, die die Zulassung der Revision rechtfertigen. Dasselbe gilt für die von der Klägerin ausgesprochenen Eigenbedarfskündigungen sowie die Berücksichtigung der von den Beklagten geltend gemachten Widerspruchsgründe. Zwar wird das hohe Alter eines Mieters im Rahmen des § 574 Abs.1 Satz 1 BGB in Rechtsprechung und Literatur uneinheitlich bewertet. Das indes rechtfertigt die Zulassung der Revision weder wegen grundsätzlicher Bedeutung noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. Die Beurteilung, ob die vom Mieter angeführten Gründe die Fortsetzung des Mietverhältnisses rechtfertigen, obliegt in erster Linie der tatrichterlichen Würdigung der jeweiligen Einzelfallumstände. Allgemein verbindliche Aussagen lassen sich dazu nicht treffen (vgl. BGH, Urt. v. 20. Oktober 2004 – VIII ZR 246/03, NZM 2005, 143, juris Tz. 11). Die Entscheidung der Kammer bewegt sich in diesem weit gesteckten tatrichterlichen Beurteilungsrahmen. Sie steht zudem im Einklang mit der einschlägigen Rechtsprechung des BGH, der es aus revisionsrichterlicher Sicht nicht beanstandet, das hohe Alter des Mieters zumindest in dem auch hier gegebenen Falle der langjährigen Verwurzelung am Ort der Mietsache im Wege einer generalisierenden Wertung als Härte zu berücksichtigen (vgl. BGH, a.a.O., juris Tz. 7, 11).
28.03.2022