Warthestraße 49 in Berlin-Neukölln. Gegen 19 Uhr öffnet sich eine Wohnungstür im Erdgeschoss: Veronika Otto stellt Stühle und Instrumente auf den kleinen gefliesten Platz am Fuße der dunklen Holztreppe. Mehr und mehr Hausbewohner kommen die Treppe herunter und immer wieder öffnet sich auch die Haustüre. Lichter werden aufgestellt, Glühwein eingegossen, Plätzchen verteilt. Das Konzert im Treppenhaus kann beginnen.
13 Jahre ist es her, dass die Musikerin Veronika Otto mit ihrer Familie hier eingezogen ist: „Ich habe damals spontan mein Cello genommen und unten an der Treppe angefangen zu spielen“, erinnert sie sich. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich eine Wohnungstür und ein Nachbar kam mit einer Flasche Sekt herunter.
Seitdem treffen sich die Bewohner des Hauses zwei-, dreimal im Jahr zu ihren Treppenhauskonzerten und es ist eine Nachbarschaft gewachsen, die mittlerweile auch Mieter umliegender Häuser mit einschließt. Die meisten leben hier seit vielen Jahren. Wie Britta, die ihre fünf Kinder in der Warthestraße großgezogen hat. „Ich kann überall klingeln, wenn ich Hilfe brauche und habe sogar schon Gäste bei Nachbarn untergebracht.“ Ein vertrautes Miteinander: Der Schwatz auf halber Treppe, die Sorge um einen Kranken, das selbstverständliche Kümmern um Blumen, Post und sogar um Haustiere, wenn jemand verreist ist. „Kürzlich haben Nachbarn überlegt, ob sie sich nicht doch irgendwo eine Wohnung kaufen“, erzählt Veronika Otto. „Aber das haben sie schnell wieder aufgegeben.“ Veronika Otto: „Was nützt einem denn die schönste Wohnung, wenn da jeder für sich lebt?“
Eine Frage, die sich auch Renate Brandtstäter vor drei Jahren stellen musste. Damals wurde ihr Wohnblock in der Gartenfelder Straße 128 in Haselhorst saniert und die 70-Jährige mit ihrem Mann für fünf Monate in eine Ersatzwohnung umquartiert. Zu der Zeit lebte das Paar schon über 50 Jahre in seinem Aufgang. Es war wie in einer Großfamilie, erinnert sie sich noch immer begeistert. „Wir hatten die Schlüssel der Nachbarn, haben zusammen gefeiert, auf die Kinder aufgepasst und wer gebacken hatte, klingelte nebenan und gab was vom Kuchen ab.“
Nach der Sanierung zog niemand ihrer einstigen Nachbarn mehr zurück. Die Brandtstäters entschieden sich dennoch für ihre einstige Wohnung. Und darüber sind sie heute glücklich. Zwar leben nun viele Jüngere in ihrem Haus, und die kommen aus vielen Nationen. „ Aber wir kommen alle prima miteinander klar“, sagt die Seniorin. Wenn sie eine schwere Tasche schleppt, wird ihr die nicht selten aus der Hand genommen und nach Hause getragen. Dafür kümmert sie sich um Nachbarwohnungen, wenn Mieter in den Urlaub fahren, führt für einen bettlägerigen Bewohner den Hund spazieren, und wenn jemand an ihrer Tür klingelt, hat sie immer Zeit und einen Kaffee parat. Beispielsweise für Gisela Voß, deren Mann vor ein paar Jahren gestorben ist. „Wenn ich nicht gute Nachbarn wie Renate gehabt hätte“, erzählt die 70-Jährige, „wäre es mir sehr schlecht gegangen.“ Gemeinsam sitzen sie oft und überlegen, ob es früher nicht doch besser war – als es noch die belebte Einkaufsstraße am Haselhorster Damm gab, mit so vielen Läden – dem Fischgeschäft, der Confiserie, einem Friseur, der Post.
„Alles weg“, sagt Renate Brandtstäter, „und damit auch viele Möglichkeiten, Nachbarn zu treffen.“ Deshalb hat die Seniorin wenigstens eine weitere Bank auf dem Spielplatz in ihrer Nähe durchgesetzt. Für eine gute Gemeinschaft müsse man doch auch was tun, erklärt sie. Und Plätze, an denen man miteinander ins Gespräch kommen kann, gehören einfach dazu.
Rosemarie Mieder
Nachbarschaften, wie sie im Buche stehen
Das Buch „Ein Haus in Neukölln“ erzählt von den Bewohnern der Warthestraße 49. Alte und Junge kommen zu Wort. Ihre gewöhnlichen und zugleich ungewöhnlichen Geschichten sind auch die Geschichte dieser besonderen Nachbarschaft.
www.verkanntenverlag.de
Die Siedlung Haselhorst in Berlin-Spandau wurde zwischen 2011 und 2013 saniert. Erhalten wurde damit nicht nur ein Baudenkmal der Moderne. Die über 70-jährige Chronik der Siedlung („Moderne Baukunst in Haselhorst“) berichtet auch über jahrzehntelange gute Nachbarschaften.
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14.04.2017