Soziale Interaktion von Nachbarn braucht auch räumliche Nähe. Bauliche und architektonische Faktoren und die Stadtplanung beeinflussen deshalb entscheidend die Entwicklung stabiler und vitaler Nachbarschaften.
Die architektonische und bauliche Gestaltung von Wohnhäusern, Plätzen und Straßen fördert, provoziert oder verhindert bestimmte menschliche Verhaltensweisen – so auch das Streben nach einer funktionierenden Nachbarschaft. Mangelnder baulicher Lärmschutz beeinträchtigt zum Beispiel jedes Zusammenleben. Dicht bebaute Wohnquartiere begrenzen den Ausblick. Nachträglich angebaute Balkone auf engen Hinterhöfen mögen zwar zwischenmenschliche Kontakte bewirken, fördern indessen ebenso den Voyeurismus und die soziale Kontrolle entsprechend veranlagter Mitbewohner.
Wenn Stadtautobahnen organisch gewachsene Kiezstrukturen zerschneiden und breite Straßen Schneisen in die Städte schlagen, verhindert das eine Nähe als bauliche Grundvoraussetzung intakter Nachbarschaften. Der Trend geht heute – bedingt auch durch steigende Einwohnerzahlen in den Städten – zum Rückbau, zur Verdichtung. Aber eine höhere bauliche Dichte fördert nicht automatisch Urbanität und Nachbarschaft.
Für eine gute Nachbarschaft spielt die Kommunikation zwischen den Mietern eine entscheidende Rolle. Kleinere Läden, Gaststätten und Kioske an Bürgersteigen, Straßen und Plätzen sind Orte ungezwungener Kommunikation. Aber auch in den großen Einkaufszentren muss es ruhige Bereiche zum Verweilen geben. Leider fallen Bänke in Parks, an den Bürgersteigen, in Bahnhöfen und Einkaufszentren als Begegnungsstätten immer mehr der allgemeinen Sparsamkeit zum Opfer.
Doch eine Trendwende deutet sich an. Wohnungsbaugesellschaften und Wohnungsbaugenossenschaften setzen heute bei der Planung neuer oder bei der Sanierung bestehender Wohnanlagen wieder mehr auf Stätten der Begegnung. Die Idee ist alt: Bereits 1906 richtete die Berliner Baugenossenschaft (bbg) in der Malplaquetstraße in Wedding einen Bürgersaal für Gemeinschaftsveranstaltungen ein. Seit acht Jahren treffen sich dort wieder Anwohner – aber nicht nur diese – zum Beispiel zum Erzählcafé. In Mariendorf betreibt die bbg eine Freizeithalle, auch in anderen Kiezen gibt es nachbarschaftsfördernde Gemeinschaftsräume, die gegen eine geringe Gebühr auch für private Feierlichkeiten genutzt werden können. Die Baugenossenschaft „Freie Scholle“ betreibt den Schollen-Treff Wittenau, wo Ausstellungen, Skatabende, Filmvorführungen, Spielenachmittage und ähnliches stattfinden. Die Wohnungsbaugenossenschaft Friedrichshain eG hat in der Landsberger Allee ein Genossenschaftszentrum mit Bibliothek eingerichtet, die Berlin-Brandenburger Wohnungsbaugenossenschaft die Mehrgenerationen-Freizeitanlage Wuhle-Anger. Viele seniorengerechte Wohnanlagen haben Ruhezonen in den Fluren, die gern als Treffpunkt genutzt werden.
In anderen Wohnanlagen können Mieter auch selbst aktiv werden und Gebäude und Außenbereiche nachbarschaftsfreundlich gestalten. Vielleicht stimmt der Vermieter zu, wenn ein ungenutzter Kellerraum oder eine ehemalige Waschküche zum Partyraum umfunktioniert wird. Auch das Anlegen von Mietergärten oder die Mitwirkung bei der Gestaltung des Innenhofes fördert die Nachbarschaft.
Immer mehr architektonisch anspruchsvolle Projekte stellen die Förderung der Nachbarschaft in den Mittelpunkt. Das chinesisch-amerikanische Architekturbüro MAD hebt zum Beispiel eine dörfliche Struktur aus der Ebene in die Vertikale. Ein sogenannter Cloud Corridor, bestehend aus Verbindungswegen, Balkonen und Gärten, verbindet eine Gruppe von neun Hochhäusern, um durch nachbarschaftliche Begegnung die Isolation in der eigenen Wohneinheit zu überwinden. Das Projekt ist ein Modell, ob es je gebaut wird, steht in den Sternen. Auf jeden Fall gilt: Eine gute Nachbarschaft entsteht nicht von selbst. Bauherren, Planer und Architekten haben ihren Beitrag zu leisten.
Rainer Bratfisch
Begegnungsort Hinterhof
1200 Hinterhöfe soll es in Berlin geben. Ihre Verwandlung in kleine grüne Stadträume verbessert nicht nur das Stadtklima und stabilisiert die pflanzliche und tierische Artenvielfalt im urbanen Raum, sondern schafft Erholungsmöglichkeiten und nachbarschaftliche Begegnungsstätten für den Menschen. Immer mehr Mieter begrünen gemeinsam ihre Höfe, gestalten sie kindgerecht um und feiern Hoffeste. Auch Hausbesitzer erkennen das Gestaltungspotenzial ihrer Höfe. Der Bezirk Pankow unterstützt seit Jahren engagierte Bürger mit dem „100-Höfe-Programm“. Die Hofbegrünung kann mit bis zu 600 Euro gefördert werden – ein Beispiel auch für andere Bezirke.
rb
MieterMagazin-Extra: Nachbarschaften
Zwei Nachbarschaften in Berlin: In guten und schlechten Zeiten
Digitale Netzwerke: Nachbarschaft 2.0
Nachbarschaftszusammenschlüsse: Solidarität im Ernstfall
Nachbarschaft mit „Anderen“: Integration beginnt an der Haustür
Nachbarschaften und soziale Abgrenzung: Arm und Reich rücken auseinander
07.07.2019