Berlin ist im Vergleich zu anderen Städten sozial gut durchmischt. Doch seit rund 20 Jahren spaltet sich die Stadt zunehmend in Arm und Reich auf. Damit geht auch eine Entsolidarisierung der Stadtgesellschaft einher. Nachbarschaftliche Beziehungen leiden darunter.
Die räumliche Entmischung von Arm und Reich hat ihren Anfang während der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts. Reiche Bürger kehrten der engen und schmutzigen Stadt den Rücken und zogen in landschaftlich schön gelegene Villenkolonien, die von privaten Bauspekulanten erschlossen worden waren. Die erste Villenkolonie war Lichterfelde (ab 1865), gefolgt von Westend (ab 1868) und Grunewald (ab 1890).
Gleichzeitig entstand rund um das alte Berlin ein Mietskasernengürtel mit einer sehr dichten Wohnbebauung. Der Regierungsbaumeister James Hobrecht, dessen 1862 beschlossener Bebauungsplan die Grundlage für eine gigantische Stadterweiterung war, wollte damit auch das „Durcheinanderwohnen der Gesellschaftsklassen“ fördern (siehe Kasten). Auch wenn es diese Mischung in vielen Häusern tatsächlich gab, war die Mietskasernenstadt deutlich sozial gespalten: Der Norden und Osten waren überwiegend proletarisch geprägt, während der Westen als bürgerlich galt. Der Publizist Kurt Tucholsky charakterisierte das 1926 so: „Berlin S. arbeitet, Berlin N. jeht uff Arbeet, Berlin O. schuftet, Berlin W. hat zu tun.“
Insgesamt war Berlin aber noch durchmischter als zum Beispiel englische Städte, deren strikte Trennung in „good neighbourhoods“ und „bad neighbourhoods“ seinerzeit als Schreckbild galt. Es gab in allen Teilen Berlins auch kleinere Inseln für Privilegierte. So baute der Beamten-Wohnungsverein um 1900 auch in den proletarischen Vierteln seine fortschrittlichen Wohnanlagen, in denen zwar nur Staatsbedienstete, Bahn- und Postbeamte oder Lehrer wohnten, die sich aber nicht von ihrem Umfeld abschotteten. Auch versuchten einige Bauspekulanten, in Arbeitervierteln gehobene Wohnhausensembles zu entwickeln. Die Knorrpromenade in Friedrichshain ist dafür ein gutes Beispiel. Die Straße hat an ihrem Anfang kleine Torbauten, die aber eher als symbolische Abgrenzung zu verstehen sind.
Die äußerste Form sozialer Abschottung ist die „Gated Community“, eine umzäunte und bewachte Siedlung mit strenger Zugangskontrolle. Solche freiwilligen Reichenghettos zum Fernhalten nicht dazugehörender Fremder kamen ab den 1970er Jahren in den USA auf und breiteten sich ab den 90er Jahren in Ländern mit großem sozialen Gefälle aus, vor allem in Südamerika, Südafrika und Osteuropa. In Deutschland gibt es nur wenige Beispiele, am bekanntesten ist „Arcadia“ in Potsdam.
Abgrenzungstendenzen gibt es allerdings auch mitten in Berlin, zum Beispiel Marthashof, eine als „Urban Village“ (städtisches Dorf) bezeichnete Wohnanlage in der Schwedter Straße in Prenzlauer Berg. In der Baugenehmigung ist festgehalten, dass ein Kinderspielplatz auf dem Gelände tagsüber öffentlich zugänglich sein soll. Seit dem Bezug der Wohnungen im Jahr 2010 ist das Zugangstor aber immer abgeschlossen und das Bezirksamt sieht keine Handhabe, der Öffentlichkeit zu ihrem Recht zu verhelfen. Eine gedeihliche Nachbarschaft zwischen neuen und alten Anwohnern kann so nicht entstehen und ist wohl auch nicht gewollt.
Wie eng die Beziehungen unter Nachbarn sind, hängt stark davon ab, wie nah sie beieinander wohnen. In reichen und armen Wohngebieten gibt es aber Unterschiede, wofür sich Nachbarn engagieren. In ärmeren Vierteln schließen sich Nachbarn bei existenziellen Fragen zusammen, etwa die Initiative „Kotti & Co“, die sich gegen Mietsteigerungen in Sozialwohnungen am Kottbusser Tor gegründet hat, oder die Bewegung „Bizim Kiez“ gegen die Verdrängung im Wrangelkiez. In bürgerlichen Stadtteilen dreht sich das nachbarschaftliche Engagement eher um weniger dramatische Probleme wie der Umbau einer Straße oder das Fällen von Bäumen.
Jens Sethmann
Soziale Mischung anno 1868
James Hobrecht beschrieb das von ihm beabsichtigte „Durcheinanderwohnen“ im Jahr 1868 mit blumigen Worten: „In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns auf dem Weg nach dem Gymnasium. Schusters Wilhelm aus der Mansarde und die alte bettlägerige Frau Schulz aus dem Hinterhaus, deren Tochter durch Nähen oder Putzarbeiten den notdürftigen Lebensunterhalt besorgt, werden in dem I. Stockwerk bekannte Persönlichkeiten.“
js
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29.01.2016