„Kein Grund zur Panik“, denken manche Mieter, wenn sie vor dem Amtsgericht einen Räumungsprozess verloren haben. Schließlich gibt es noch eine zweite Instanz. Doch unter Umständen ist die Wohnung weg, bevor das Landgericht über die Kündigung entschieden hat.
Es ist der kurze, verhängnisvolle Satz am Ende eines schriftlichen Urteils: „Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar“, heißt es da. Das bedeutet, dass der Vermieter sofort nach der erstinstanzlichen Entscheidung einen Räumungstitel erwirken kann. Dazu muss er zwar eine Sicherheitsleistung beim Gericht hinterlegen. Aber das ist allenfalls für kleine Privatvermieter eine Hürde.
Dass aus einem erstinstanzlichen Urteil vollstreckt – sprich geräumt – wird, hat Rechtsanwalt Christoph Müller in den letzten 30 Jahren nur „zwei oder drei Mal“ erlebt. Doch seit einiger Zeit hat der Fachanwalt für Mietrecht zunehmend solche Fälle. „Das Erlangungsinteresse an der Wohnung ist bei den Vermietern enorm gestiegen“, erklärt Müller. Früher habe man sich mit dem Anwalt der Gegenseite geeinigt, dass nicht vollstreckt werden soll, bevor ein rechtskräftiges Urteil vorliegt. Diese stille Übereinkunft, so Müller, sei aufgekündigt worden. Zwar löst eine vorzeitige Vollstreckung Schadensersatzansprüche aus, nämlich dann, wenn das Landgericht die Kündigung später zurückweist und die Wohnung bereits neu vermietet wurde. Der Vermieter muss dann eine Zeitlang die Differenz zwischen der neuen und der alten, günstigeren Miete übernehmen. Abschreckend wirkt das nach Müllers Einschätzung jedoch nicht mehr: „Das sind Peanuts für Immobilienhaie und im Kalkül oft schon enthalten.“ Schließlich kann eine leere Wohnung zu einem viel höheren Preis verkauft werden als eine vermietete.
Die frühere Übereinkunft gilt nicht mehr
Doch wie kann es überhaupt sein, dass geräumt wird, ohne das rechtskräftige Urteil abzuwarten? Grundsätzlich sollte der Anwalt oder die Anwältin sofort nach dem Urteil Vollstreckungsschutz beantragen. Doch manchmal wird es schlicht vergessen – auch Anwälte machen Fehler. Zudem muss der Einspruch begründet sein. Das heißt, es muss dargelegt werden, welche schwerwiegenden Nachteile für den Mieter mit einer Räumung verbunden wären – etwa eine Suizidgefahr oder die derzeitige Situation einer Pandemie. Zusätzlich prüft das Gericht, ob die Klage in einer zweiten Instanz überhaupt Aussicht auf Erfolg hat.
Hat der Vermieter dann einen Räumungstitel, kann die Zwangsvollstreckung nur noch abgewendet werden, wenn der Mieter eine Sicherheitsleistung hinterlegt. Welche Folgen all diese Unwägbarkeiten haben, zeigt ein tragischer Fall aus Moabit. Das Amtsgericht konnte hier keine besonderen Umstände erkennen, die den Räumungsschutz für eine Familie mit vier Kindern begründet hätten. Die geforderte Sicherheitsleistung von 17.000 Euro konnte die Familie nicht aufbringen. Rechtsanwalt Cornelius Krakau hatte Beschwerde gegen die Sicherheitsleistung eingelegt und eine Vorverlegung des Termins beim Landgericht verlangt – beides vergeblich. Im März 2019 wurde per Gerichtsvollzieher geräumt. Dass die Kündigung später vom Gericht zurückgewiesen wurde, nutzt den Mietern nichts mehr. Ihre Wohnung in der Lübecker Straße 40 wurde angeblich neu vermietet.
Der Berliner Mieterverein (BMV) fordert eine Änderung der Zivilprozessordnung. Es müsse ein Sicherungssystem installiert werden, sagt Sebastian Bartels von der BMV-Geschäftsführung: „Das Verfahren ist sehr fehleranfällig, schon wegen der Zeitnot und der vielen Fristen, die zu beachten sind.“ Insbesondere eine Räumung nach einem Versäumnisurteil sei ein „Unding“. Ein Versäumnisurteil bedeutet, dass ein Urteil ergeht, ohne dass sich der oder die Beklagte dazu geäußert hat, beispielsweise weil man – wie im Falle der Moabiter Familie – das Schreiben mit der Räumungsklage gar nicht erhalten hat.
Birgit Leiß
Der Fall Liebigstraße 34
Auch für die Liebigstraße 34, ein bekanntes Haus der linksautonomen Szene, hatte der Eigentümer, ein Unternehmen der umstrittenen Padovicz-Gruppe, den Gerichtsvollzieher schon bestellt, obwohl nur ein Urteil der Erstinstanz vorlag. Weil es sich um ein Gewerbemietverhältnis handelte, war dies das Landgericht. Erst ganz knapp vor dem angesetzten Räumungstermin entschied das Kammergericht, dass das Gebäude geräumt werden darf, weil die Gewerbemietverträge ausgelaufen seien.
bl
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29.01.2021