Wenn man die Lindenhof-Bewohner nach ihrem Lieblingsort fragt, nennen fast alle den Teich. Um sein Ufer herum kann man wunderbar spazieren gehen, Vögel beobachten oder in einem kleinen Café preiswert zu Mittag essen. Aber auch sonst bietet die nach dem Vorbild der englischen Gartenstadt errichtete Wohnsiedlung eine hohe Wohnqualität zu bezahlbaren Preisen. Kürzlich wurde das 100-jährige Jubiläum gefeiert.
Als Maria Däne im Herbst 1968 zu ihrem Mann in die Schöneberger Siedlung zog, wirkte alles ein wenig trist auf die Spanierin. Doch im Winter kam plötzlich Leben in das Viertel, erzählt sie: „Ganze Familien machten sich mit Schlittschuhen und Schlitten auf den Weg zum Teich.“ Ihr Mann hat an der Badestelle das Schwimmen gelernt. Früher fanden hier sogar Angelwettbewerbe statt. Maria Däne treibt jeden Tag Sport an dem Teich. Ganz besonders liebt sie die romantische Brücke. „Wenn ich dort stehe und auf die Trauerweiden blicke, fühle ich mich gleich besser.“
Zunächst wohnte die kleine Familie zu dritt in einer winzigen Wohnung unter dem Dach. „Nach dem zweiten Kind habe ich die Verwaltung angefleht, uns eine größere Wohnung zu geben – das war schon damals nicht einfach, doch irgendwann hat es geklappt.“
Mit dem Bollerwagen ins Waschhaus
Treffpunkt für alle Frauen war in dieser Zeit das Waschhaus. In kaum einer Wohnung stand damals eine Waschmaschine. Stattdessen machte man sich einmal in der Woche mit einem Bollerwagen auf den Weg zum Waschhaus. „Ich habe mich auf diesen Tag immer gefreut – man hat dort erfahren, was so los ist und wer gerade ein Kind kriegt“, sagt Maria Däne.
Viele Verwandte ihres Mannes lebten im Lindenhof, die Schwiegereltern bewohnten früher eines der sogenannten „Chinesenhäuschen“ in der Reglinstraße. Diese Reihenhäuser hatten als Besonderheit einen Vorbau, der an eine Pagode erinnert. Hier waren die Toiletten untergebracht.
Maria Däne fühlt sich noch immer ausgesprochen wohl im Lindenhof, auch wenn einiges anders geworden sei, wie sie bedauernd sagt: „Früher konnte man die Kinder ohne Sorgen auf der Straße spielen lassen – heute gibt es dafür zu viele Autos.“ Auch die kleinen Geschäfte sind verschwunden. Statt zum Fleischer und Bäcker direkt in der Siedlung gehen die Bewohner zum nahegelegenen Supermarkt. Peter Gierke betrieb einen der letzten Läden, ein Geschäft für Spielwaren und Modelleisenbahnen. Er war 1980 auf der Suche nach einem Laden im Lindenhof gelandet. Die Ladenwohnung hat ihm die Genossenschaft GeWoSüd, die Eigentümerin der Siedlung, gleich mitvermietet.
Das Ledigenheim war seiner Zeit voraus
Leben und Arbeiten im Grünen, das war die ursprüngliche Idee dieses Pionierprojekts des Sozialen Wohnungsbaus. Mit Grundschule und Kita, Gemeinschaftseinrichtungen und Mietergärten zur Selbstversorgung sollte die Wohnsiedlung weitgehend autark sein. Vor allem für Familien waren das ideale Bedingungen. Aber die Architekten dachten auch an die Singles – zur damaligen Zeit überaus fortschrittlich – und bauten ein sogenanntes Ledigenheim mit 120 kostengünstigen, sehr kleinen Wohnungen. Das von Bruno Taut entworfene Gebäude, das mit seinem burgähnlichen Charakter ein repräsentatives Eingangstor in die Siedlung darstellt, existiert allerdings nicht mehr. 80 Prozent der Siedlung wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Das eröffnete andererseits Raum für kluge Ergänzungsbauten, auch wenn die denkmalgeschützte Siedlung dadurch ein wenig zusammengestückelt wirkt. Neben Einfamilienhäusern mit Garten gibt es 50er-Jahre-Zeilenbauten und mehrere Hochhäuser. Ausgestattet mit Fahrstuhl und barrierefreien Bädern bieten sie sich besonders für älter gewordene Bewohner der Siedlung an.
In einem der Hochhäuser wohnt seit 2017 Petra Hanff. Zufällig war die Erzieherin bei einem Spaziergang mit ihren Kindern ein paar Jahre zuvor auf die Siedlung gestoßen. Sie hatte Glück und ergatterte nach relativ kurzer Wartezeit eine Zweizimmerwohnung mit Balkon und schönem Blick auf den Teich – „mitten in der Stadt und trotzdem im Grünen“, wie sie beschreibt. Weiterer Pluspunkt: das Gemeinschaftsleben. Im Nachbarschaftstreff trifft sich unter anderem ein Chor, man kann Kochkurse besuchen, Karten spielen und vieles mehr. „Hier ist es ein bisschen wie auf dem Dorf“, meint Petra Hanff.
Was sie ebenfalls sehr schätzt, ist der Vermieter-Service. „Wenn etwas kaputt ist, ruft man an und schon kommt jemand vorbei.“ Als vor einiger Zeit der Fahrstuhl erneuert und für ein paar Wochen außer Betrieb genommen werden musste, wurde automatisch eine Mietminderung vorgenommen und Hilfe beim Einkauf angeboten.
„Es wird sehr viel für die Mieter getan, und das steckt an“, bestätigt Brigitte Gesche, die seit 1980 eine der besonders begehrten Dreizimmerwohnungen mit Garten bewohnt. Das Zusammengehörigkeitsgefühl sei schon außergewöhnlich, was aber auch am Engagement der Bewohner läge, betont Brigitte Gesche. Die 80-Jährige hat eine Skat-Gruppe gegründet, eine Nachbarin unterrichtet Yoga in ihrem Garten und Maria Däne hat bei der Weihnachtsfeier vor einigen Jahren alle mit einer Tanzvorführung begeistert. „Das Paradies machen wir uns selber“, meint Brigitte Gesche.
Birgit Leiß
100 Jahre gesundes, preiswertes Wohnen
Die Siedlung Lindenhof wurde zwischen 1918 und 1921 gebaut und gilt als wegweisend für den Siedlungsbau der Weimarer Republik. In einer Zeit großer Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg sollten hier ärmere Bevölkerungsschichten mit preiswertem, gleichwohl „gesundem“ Wohnraum versorgt werden. Architekt Martin Wagner, Stadtbaurat in Schöneberg, senkte die Baukosten durch Beschränkung auf zwei Haustypen, genormte Grundrisse und eine einfache Ausstattung. Bauherr war die damals eigenständige Stadt Schöneberg, doch schon nach der Fertigstellung ging die Siedlung an eine neu gegründete Genossenschaft. Wegen der Nähe zum Flughafen Tempelhof und den Gleisanlagen wurden große Teile der Siedlung im Zweiten Weltkrieg zerstört, darunter auch drei der fünf Torhäuser in der Suttnerstraße. Auch die meisten „Chinesenhäuschen“ überstanden den Krieg nicht und wurden als Mehrfamilienhäuser wiederaufgebaut.
Eine Besonderheit waren die 80 Quadratmeter großen Mietergärten, die ursprünglich zu jeder Wohnung gehörten. Ein fest angestellter Gärtner stand den Mietern bei der Bewirtschaftung mit Rat zur Verfügung. Nach dem Krieg wurden Grünflächen und Parkplätze umgewandelt und erst 2018 wieder als Gärten neu angelegt.
Ab 2007 wurde der gesamte Lindenhof umfangreich saniert und die Dachgeschosse ausgebaut. Dafür erhielt die GeWoSüd mehrere Preise. Mit insgesamt 1267 Wohnungen ist der Lindenhof die größte Wohnanlage der GeWoSüd. Sie umfasst 163 Mehrfamilien- und 69 Einfamilienhäuser.
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Zum 100. Geburtstag hat die GeWOSüd im November 2021 Info-Stelen zur Geschichte der Siedlung aufgestellt. Per QR-Code kann man den Parcours vor Ort ablaufen. Oder man klickt die einzelnen Stationen auf der Website an:
https://lindenhof-berlin.de.
Neben Infos gibt es auch viele historische Fotos.
Besondere Siedlungen
11.05.2022