Das Märchenviertel in Köpenick ist ein schönes Beispiel dafür, was Mieterprotest erreichen kann. Ausgerechnet in dieser beschaulichen Gegend am Stadtrand gingen die Bewohner gegen eine teure Sanierung auf die Barrikaden und ließen nicht locker, bis der Investor einlenkte. Inzwischen ist wieder Frieden eingekehrt in der 100 Jahre alten Siedlung zwischen Wald und Bahndamm.
„Es ist einfach schön hier“, meint Lutz Czieselsky, der 2004 ins Märchenviertel gezogen ist. Er schätzt vor allem die Ruhe und den dörflichen Charakter. „Wenn ich aus meiner Haustür trete, bin ich gleich im Wald“, findet auch seine Nachbarin Margot Makowski. Einen Balkon vermisst sie nicht. Die 81-Jährige wohnt seit 1973 in der Mittelheide. Die Straße mündet direkt in ein Landschaftsschutzgebiet. Lediglich die Einkaufsmöglichkeiten lassen zu wünschen übrig. Seit der Netto zugemacht hat, gibt es im Viertel keinen Supermarkt mehr. Lutz Czieselsky hat einen hilfsbereiten Nachbarn, der ihn einmal in der Woche zum Einkaufen chauffiert. Andere Bewohner fahren mit dem Rad zum S-Bahnhof Köpenick.
Das denkmalgeschützte Ensemble besteht eigentlich aus zwei Teilen: der Reihenhaussiedlung Elsengrund und der Siedlung Mittelheide-Märchenviertel, wo viele Straßen nach Märchenfiguren der Gebrüder Grimm benannt sind, etwa Frau-Holle-Straße, Schneewittchenstraße oder Dornröschenstraße. Hier stehen viele Ein- und Zweifamilienhäuser. Lediglich entlang der Mittelheide gibt es zwei- und dreigeschossige Mehrfamilienhäuser. Architektonische Highlights sucht man vergebens. Es sind die kleinen Dinge, die den Reiz ausmachen, die klar strukturierten Formen, die Sprossenfenster und die Torbögen, die fast an Stadttore erinnern. Und das dörfliche, idyllische Flair, gerade mal 20 S-Bahn-Minuten von Berlins Zentrum entfernt.
Ganz plötzlich war es mit der Beschaulichkeit vorbei
Mit der Beschaulichkeit war es 2012 schlagartig vorbei. Gerüchte über einen Verkauf der rund 700 Mietwohnungen machten die Runde. Die Aufregung war groß, viele alteingesessene Bewohner hatten große Angst, ihre Wohnung zu verlieren. „Trotzdem war es nicht einfach, die Leute zu mobilisieren“, erinnert sich Lutz Czieselsky: „Viele waren der Meinung, da könne man eben nichts machen.“
Margot Makowski gehörte neben Lutz Czieselsky zu den aktivsten Köpfen der sich damals gründenden Bürgerinitiative Mittelheide-Märchenviertel – und das, obwohl sie selber gar nicht betroffen war. Sie wohnt in einem Teil der Siedlung, der einem anderen Eigentümer gehört und der bis heute nicht saniert wurde. Einige wenige Mieter haben sogar noch Kachelöfen. Die Mieten sind dementsprechend günstig. Der neue Eigentümer des anderen Teils, die Pro Mittelheide GmbH, wollte in Eigentumswohnungen umwandeln. Vorher sollte die „Braut“ natürlich herausgeputzt werden. „Es war ein großer Kampf, aber wir haben erreicht, dass die Modernisierungen nicht zu einer Verdrängung geführt hat“, sagt Lutz Czieselsky stolz und erzählt verschmitzt, wie sie um vier Uhr morgens auf die Laternen kletterten, um Protestplakate anzubringen. Irgendwie habe es auch Spaß gemacht, den Investor zu ärgern.
Morgens um vier auf die Laternen
Monatelang wirbelten die Aktivisten, organisierten zwei große Mieterversammlungen in der Kirche – auch Gregor Gysi erschien dazu – und holten sich Unterstützung beim Berliner Mieterverein. „Seitdem weiß ich: Öffentlichkeit hilft“, sagt Czieselsky.
Am Ende waren ihre Wohnungen zwar an Kapitalanleger verkauft, aber die Mieter waren umfassend geschützt. Die Rahmenvereinbarung, die 2013 zwischen Bürgerinitiative, dem Berliner Mieterverein und dem Investor abgeschlossen wurde, sah unter anderem vor, dass bei den Bestandsmietern eine Kündigung wegen Eigenbedarfs oder Hinderung wirtschaftlicher Verwertung ausgeschlossen ist. Da auch ein Bestandsschutz für mietereigene Einbauten vereinbart wurde – viele langjährige Mieter hatten sich Gasetagenheizungen eingebaut – und der Investor auf die Kostenumlage der neuen Balkone und Einbauküchen verzichtete, fiel die Mieterhöhung moderat aus. Czieselsky hat ausgerechnet, dass die Mieter durch den erfolgreichen Protest bis heute insgesamt 1,2 bis 1,5 Millionen Euro gespart haben.
Über die Balkone könnte er sich trotzdem heute noch ärgern. Dass überhaupt an der rückseitigen Fassade Balkone angebaut werden durften, war ein mühsam ausgehandelter Kompromiss mit dem Denkmalschutzamt. Weil die Balkone dicht an dicht gebaut sind, erlauben sie keine Privatsphäre. „Ich könnte drauf verzichten“, meint Lutz Czieselsky.
Kleine Wohnungen – kleine Haushalte
Durch normale Fluktuation sind in den letzten Jahre viele Wohnungen neu vermietet worden – für Preise von bis zu 10 Euro pro Quadratmeter. Die Neuen, die hier einziehen, seien etwas reserviert, findet Margot Makowski. Die meisten arbeiten den ganzen Tag und haben wenig Zeit für nachbarschaftliche Kontakte. Im Märchenviertel gibt es ausschließlich kleinere Wohnungen mit anderthalb bis zweieinhalb Zimmern. Daher sind es meist Alleinstehende oder Paare, die hier wohnen. „Man grüßt freundlich und hilft sich auch schon mal“, beschreibt die 81-Jährige das eher distanzierte Miteinander. Wegziehen aus dem Märchenviertel würde sie aber nie: „Ich genieße jeden Tag, dass wir hier so nah an der Natur sind.“
Birgit Leiß
Heimat für Widerstandskämpfer und Künstler
Das Märchenviertel entstand als erstes kommunales Wohnungsbauvorhaben der Weimarer Republik zwischen 1918 und 1924 (Reihenhaussiedlung Elsengrund) sowie 1927 und 1929 (Mehrfamilienhäuser). Der Schweizer Architekt Otto Rudolf Salvisberg hatte von einer gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft den Auftrag bekommen, das Gesamtkonzept einer Gartenstadt zu entwickeln.
Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten lebten in vielen der Häuser Gewerkschafter und Politiker der SPD und KPD. Viele von ihnen wurden in der Köpenicker Blutwoche im Juni 1933 von der SA verschleppt, brutal gefoltert und ermordet. Ein Gedenkstein am Essenplatz erinnert an die Opfer. In den 60er Jahren zog es immer mehr Künstler in das Märchenviertel. 1977 wurde die Siedlung unter Denkmalschutz gestellt. Nach der Wende gingen die Mietwohnungen von der Kommunalen Wohnungsverwaltung in den Besitz der GSW über. 2013 wurden sie von dem mittlerweile privatisierten Unternehmen weiterverkauft.
bl
www.maerchenviertel-berlin.de
29.05.2021