In der Siedlung am Steinberg in Tegel werden die Wohnungen von Generation zu Generation weitergegeben. Wer „erst“ vor 30 Jahren zugezogen ist, gilt hier als Neuling. Doch die dörfliche Idylle mit Straßennamen wie „Am Brunnen“ und „Kehrwieder“ täuscht. In Sachen Widerstand machen die rüstigen Mietrebellen ihren Kolleginnen und Kollegen aus Kreuzberg noch einiges vor.
„So etwas gibt man doch nicht auf, wir leben hier im Paradies“, sagen Brigitte und Hartmut Lenz, während sie vor ihrem Haus auf der Veranda sitzen und auf den weitläufigen Garten schauen. Hier wurde Hartmut Lenz 1952 geboren, seine Großeltern gehörten 1920 zu den Erstbezüglern. Der heute 69-Jährige erinnert sich noch gut an die Karnickelställe und an die Nutzgärten: „Jeder Quadratzentimeter wurde verwendet, um Kartoffeln, Schalotten und Johannisbeersträucher anzupflanzen.“ Heute sind es reine Ziergärten mit Blumen und Rasen, nur ein paar alte Birnbäume stehen noch.
In den 38, kaum 80 Quadratmeter großen Reihenhäuschen wohnten früher mehrere Generationen, in den Anfangsjahren auch noch mit Untermieter. Ein Bad gab es nicht, gekocht wurde auf dem Kohlebeistellherd. 1965 ließen Lenz‘ Eltern mit Genehmigung des Bezirks, dem die Siedlung damals gehörte, eine Kokszentralheizung einbauen. Dass man nur noch eine Feuerstätte im Keller einheizen musste, galt damals als Fortschritt. Später ließ die Familie dann eine Gasheizung installieren.
über die Geschehnisse in der Siedlung am Steinberg.
Weitere Informationen dazu unter MieterMagazin zur Siedlung am Steinberg
Kleckse in der Landschaft
„Wenn wir Mieter nichts gemacht hätten, wären die Häuser schon vor 50 Jahren eingestürzt“, sagt Hartmut Lenz. Er ist so etwas wie ein inoffizieller „Dorfbürgermeister“ führt gern durch die kleine Siedlung, die auch Kleinkleckersdorf genannt wird. Als sie gebaut wurde, waren nämlich drumherum nur Felder, von weitem sahen die Häuser wie Kleckse aus.
Vom „Kampfzelt“ im Lenz’schen Garten, wo an die verstorbenen Bewohner erinnert wird und außerdem Transparente aufbewahrt werden, sind es nur ein paar Schritte zum Protest-Pavillon. Seit über sieben Jahren ist er täglich besetzt, an sieben Tagen die Woche. Es dürfte die am längsten existierende Dauerkundgebung Berlins sein. Denn seit 2010 ist in der beschaulichen Siedlung am nördlichen Stadtrand nichts mehr, wie es einmal war.
Die Angst geht um – die Angst, aus seinem langjährigen Zuhause vertrieben zu werden. Seinerzeit wurde die Siedlung nämlich von dem Wohnungsunternehmen GSW an eine Fondsgesellschaft verkauft. Die hat große Pläne für die begehrten Einfamilienhäuser im Grünen, denn dank Denkmalschutz winken attraktive steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten. Die Mieter wurden mit Modernisierungsankündigungen geschockt, die eine Vervielfachung ihrer Mieten bedeutet hätten. Doch sie wehrten sich gemeinsam und haben dem Eigentümer bis heute einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bis vor einigen Jahren an vorderster Front mit dabei: „Oma Anni“, Hartmut Lenz‘ mittlerweile verstorbene Mutter, die mit 94 Jahren auf einem Wahlplakat der Linken ihren Protest gegen die Verdrängung kundgetan hat.
Wie sich die „Am Steinberg Entwicklungsgesellschaft mbH“ die neuen Zeiten in den „Stonehill Gardens“ vorstellt, kann man sich an den bereits umgebauten Häusern in der Siedlung anschauen. Terrasse mit großer Fensterfront, Kamin, Fußbodenheizung Swimmingpool – so exklusiv kann man nun unter 100 Jahre alten Obstbäumen wohnen, schreiben die Vermarkter auf ihrer Website. Man habe das Ensemble aus dem Dornröschenschlaf erweckt. Für rund eine Million Euro werden die Häuschen an Kapitalanleger und Eigennutzer verkauft. Mietpreis: über 3600 Euro. „Bei uns wohnt nun die Prominenz“, sagt Lenz. Doch er grüßt auch die Neuen freundlich: „Die können ja nichts dafür.“
Der Kontrast zu Edith Frankes Zuhause könnte nicht größer sein. Ihr Haus ist noch im Originalzustand, inklusive Badeofen, den die 86-Jährige noch selber beheizt. Ein Nachbar schaut täglich nach dem Rechten, besorgt Holz und beheizt den Ofen in der Küche. In Kleinkleckersdorf kümmert man sich umeinander. „Wir passen aufeinander auf, und wenn jemand mal einen Tag lang nicht gesehen wird, hämmern wir an die Tür“, meint ein Bewohner, der seit seiner Geburt vor 81 Jahren in der Siedlung am Steinberg lebt. Jeden Dienstag treffen sich einige Nachbarn bei Edith Franke, und freitags wird zusammen „Let‘s Dance“ geguckt. Die alte Dame kann zwar nicht mehr tanzen, aber sie ist ein großer Tanzfan. Die anderen von der Mieterinitiative unterstützen sie auch bei ihrem Kampf vor Gericht. Edith Franke wurde als erste auf Duldung der Modernisierung verklagt. Um 1667 Euro sollte ihre Miete steigen. Das Gericht entschied, dass sie die Luxusmodernisierung nicht dulden muss, weil damit anstelle der jetzigen Mietsache etwas völlig Neues entstehen würde.
Von Edith Frankes Haus führt der Dorfbürgermeister – unterbrochen von kurzen Schwätzchen mit Nachbarn – zu den drei Mehrfamilienhäusern am Ende der Straße. Sie wurden 2019 von der „Am Steinberg Entwicklungsgesellschaft“ weiterverkauft. Lenz setzte sich mit Vertretern des neuen Eigentümers an einen Tisch und handelte für jeden Mieter einzeln aus, wie er oder sie es haben will. Das Ergebnis: nur moderate Mietsteigerungen durch die Modernisierung. Die Gärten, die zu jeder der 52 Quadratmeter großen Etagenwohnungen gehören, können bleiben und werden lediglich versetzt.
Grundbuch-Klausel gegen Verdrängung
Was den Komplettumbau der Reihenhäuschen betrifft, kommt der Eigentümer nur zum Zug, wenn jemand auszieht oder verstirbt. Als Riesenglück erwies sich eine mieterschützende Klausel in den Kaufverträgen – auf die die Mieter aber erst durch eigene Recherchen im Grundbuchamt gestoßen waren. Demnach sind ohne ihre Zustimmung nur unwesentliche bauliche Veränderungen zulässig. Doch der lange Kampf nagt an der Substanz, wie Lenz sagt: „Die wollen uns alle mürbe machen und probieren alle möglichen Tricks.“ Das Durchschnittsalter sei um die 80, die älteste Mieterin ist 103 Jahre alt. „Die wollen uns raushaben und deshalb demonstrieren wir weiter“, bekräftigt Lenz.
Birgit Leiß
Einfacher Wohnraum für Kriegswitwen und Invaliden
Kurz nach dem 1. Weltkrieg beschloss die Gemeinde Tegel, eine Kleinhaussiedlung mit einfachem und preisgünstigem Wohnraum für Invaliden, Witwen und andere Bedürftige zu errichten. 1919/1920 wurde die Siedlung am Steinberg durch den Berliner Architekten und Stadtbaumeister Ernst Hornig gebaut. Er soll auch selber eines der Häuschen bezogen haben.
Neben 62 Wohneinheiten in fünf Reihenhauszeilen sowie einem Doppelhaus entstanden auch drei Mehrfamilienhäuser. Jede Wohneinheit, auch die Geschosswohnungen, haben einen Garten. Bis in die 1960er Jahre wurde er vorwiegend zur Selbstversorgung genutzt. Bis Mitte der 1980er Jahre wurde die landeseigene Siedlung von Bezirk verwaltet, dann wurde sie an die GSW verkauft. Nach ihrer Privatisierung veräußerte die GSW die Siedlung 2009/2010 an eine private Investorengruppe, die „Am Steinberg Entwicklungsgesellschaft mbH“.
bl
Besondere Siedlungen
29.01.2022