Das Wohnen in ehemaligen Fabriken wurde einst entdeckt von jungen Leuten mit alternativen Lebensentwürfen und wenig Geld in der Tasche. Doch die Zeiten der günstigen Mieten in diesen damals im Überfluss vorhandenen Gewerberäumen sind lange vorbei. Fabriketagen sind inzwischen heiß begehrt, ob als Rohling, schick ausgebautes Loft oder als stylisher „Coworking-Space“. Die Bewohner aus den weniger hippen Zeiten Berlins geraten mit ihren vor Jahrzehnten geschlossenen Gewerbemietverträgen zunehmend unter Druck.
Vor dem Fall der Mauer gab es in der ehemaligen Industriemetropole Berlin massenhaft leerstehende Hinterhoffabriken, vor allem im Wedding, in Kreuzberg, Neukölln und Schöneberg. Mit ihren oft über 100 Quadratmeter großen Gemeinschaftsräumen waren sie ideal für Künstler, Studierende und Polit-Gruppen. Davon profitierten Mieter wie Eigentümer. Letztere konnten die ungenutzten Gewerberäume unter Umgehung der damals geltenden Mietpreisbindung in West-Berlin gut vermieten, und Menschen mit Lust auf ein kollektives Wohnen konnten hier ihre Träume verwirklichen. Die Bewohner mussten zwar häufig große Summen investieren, um die Räume zu Wohnzwecken umzubauen. Doch dafür hatten sie jede Menge Gestaltungsspielraum. Dass meist ein Gewerbemietvertrag – mit ungleich schlechterem Kündigungsschutz – abgeschlossen wurde, nahmen sie in Kauf. Mit dem in den 1990er Jahren einsetzenden Immobilienboom wendete sich das Blatt. Der besondere Charme der Fabriketagen weckte nun auch bei Investoren Interesse, und viele Eigentümer wollten – und wollen noch immer – ihre Mieter loswerden.
Immobilienboom macht vor Hinterhof-Fabrik nicht halt
So auch in der Hermannstraße 48 in Neukölln. Die ehemalige Fabrik im Hinterhaus ist an große Wohngemeinschaften vermietet, zum Teil schon seit 40 Jahren. In einer der Etagen wohnen acht junge Leute, die meisten studieren. Der riesige Gemeinschaftsraum ist der Mittelpunkt der WG, hier wird gemeinsam gegessen und Zeit verbracht. „Ich mag es, in einer großen Wohngemeinschaft zu leben“, meint eine der Bewohnerinnen. Sie möchte ungenannt bleiben, denn die Angst vor einem Rauswurf geht um. Nach dem Verkauf Anfang 2021 gelang es der Hausgemeinschaft zwar, das Haus im Rahmen des Vorkaufsrechts in Milieuschutzgebieten selber zu kaufen. Doch seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom November 2021, mit der die Ausübung des Vorkaufsrechts de facto gekippt wurde, ist die rechtliche Situation völlig unklar. Sowohl die Verkäuferin als auch der Käufer haben geklagt, somit ist das Verfahren in der Schwebe. Alle 140 Bewohnerinnen und Bewohner hängen derzeit in der Luft. Doch besonders prekär ist die Lage für die Wohngemeinschaften im Hinterhaus: Sie alle haben Gewerbemietverträge oder Verträge, die eine teilgewerbliche Nutzung vorsehen. Es gibt also keinerlei Kündigungsschutz – wobei die Gerichte im Streitfall auf die tatsächliche Nutzung abstellen (hierzu unsere Infobox unten auf der Seite). „Man traut sich nicht mal, Reparaturen einzufordern“, meint eine Mieterin. Einer Wohngemeinschaft im Haus wurde bereits gekündigt und geräumt. Dabei wusste die Vermieterin von Anfang an, dass hier gewohnt und nicht gearbeitet wird.
Früher war es eine Win-win-Situation: „Neukölln galt als unattraktiv, der Leerstand war hoch, und die Wohngemeinschaften waren froh, Räume zu finden, die für eine große Gruppe geeignet sind.“ Doch nun argumentiert der Käufer, bei den Räumen handele es sich um Gewerbe.
Nach dem Rauswurf der WGs, so die Bewohner, könnte der Investor an Start-ups vermieten oder die Etagen zu Luxus-Lofts umbauen.
Zusammen mit den anderen Bewohnern bedrohter Häuser engagiert sich die Hermannstraße 48 daher in der „Kampagne Wohnfabriken“. „Uns ist es wichtig, diese alternative Wohnform abseits von Kleinfamilie und Single-Appartements zu erhalten“, heißt es in einer Erklärung. Sieben Häuser in unterschiedlichen Bezirken gehören dem Bündnis derzeit an. „Wohnen in einem Gewerbemietverhältnis ist immer mit Angst verbunden“, meint eine Aktivistin. Man wolle mehr öffentliche Aufmerksamkeit erreichen und sich gegenseitig unterstützen. „Es geht darum, dass nicht jeder für sich alleine kämpft.“
Nicht alle Fabriketagen pflegen noch die hehren Ideale vom Zusammenleben im Kollektiv. Einige verstehen sich als eine Zweckgemeinschaft, andere werden von Künstlern als Atelier genutzt, und manchmal wohnt auch ein gut verdienendes Paar auf 200 Quadratmetern, nachdem die WG-Bewohner nach und nach ausgezogen sind.
Der Geist der alten Garde
In der Skalitzer Straße 100 dagegen weht noch der Geist der alten Garde. Leben und Arbeiten gehen hier zusammen. Hier wohnen Elisa Pfennig und Melodi Yüce zusammen mit sechs weiteren Erwachsenen und zwei Kindern. Alle sind an den Projekten des Kulturvereins Werkstattraum e.V. beteiligt. 2011 hat der Verein zwei Etagen mit insgesamt 400 Quadratmetern in der ehemaligen Krawattenfabrik angemietet. Im Erdgeschoss sind Werkstätten und ein Atelier untergebracht, das erste Obergeschoss wurde zum Wohnraum umgebaut. „Wir haben alles selber gemacht: Wände eingezogen, Dusche eingebaut“, erzählt Elisa Pfennig. Der Mietvertrag für Gewerberäume wurde für fünf Jahre abgeschlossen, mit einer Option auf Verlängerung um weitere fünf Jahre.
Im Jahre 2020 wurde das Gebäude Skalitzer Straße 100 verkauft. Der neue Eigentümer sagt, er habe nicht gewusst, dass hier gewohnt wird. Seine Kalkulation ginge nur auf, wenn er die Etagen für 30 Euro pro Quadratmeter an Firmen vermieten könne. Im September 2021 kündigte er dem Verein. Doch in überraschend kurzer Zeit wurde die Räumungsklage vom Landgericht zurückgewiesen: Es handele sich um Wohnraum, so die Richter (LG Berlin vom 15. Oktober 2021 – 3 O 263/21 –). Angesichts der ausführlichen Begründung, wonach eine Wohnnutzung eindeutig überwiegt, rechnet Rechtsanwalt Benjamin Hersch auch nicht damit, dass die nächste Instanz davon abweichen könnte. Im „Mietvertrag über gewerbliche Räume“ heißt es zwar, dass das Mietobjekt ausschließlich „zum Betrieb eines Ateliers, Workshopräume, Ausstellungsraum sowie einer Holz- und Metallwerkstatt“ vermietet wird. Doch in einer Zusatzvereinbarung wird festgehalten, dass sämtliche Anträge vom Mieter zu stellen sind, falls eine Nutzung zu Wohnzwecken beabsichtigt ist. 2016 hatte der Verein dann beim Bezirksamt eine offizielle Umwidmung der ersten Etage zu Wohnzwecken bewerkstelligt. Im Mietvertrag seien also beide Nutzungsarten angelegt, so das Landgericht.
Die Erleichterung über das Urteil ist groß. Was wäre, wenn die Gruppe ihre Räume verloren hätte? „Für mich hätte es dann in Berlin überhaupt kein passendes Wohnkonzept mehr gegeben“, sagt Elisa Pfennig.
Birgit Leiß
Mietvertrag mit Schleudersitz?
Vor Gericht haben Mieter mit Gewerbemietvertrag relativ gute Chancen, sich gegen eine Kündigung zu wehren – übrigens auch, wenn sie teilweise tatsächlich dort arbeiten. Entscheidend ist, ob die Wohnnutzung überwiegt. Kann dies belegt werden, etwa durch Zusatzvereinbarungen oder durch Vermieter-Schreiben, in denen wiederholt von „Ihrer Wohnung“ die Rede ist, handelt es sich um ein Wohnraummietverhältnis mit dem entsprechendem Kündigungsschutz. Auch die Miete kann dann – anders als bei Gewerbemietverhältnissen – nicht nach Belieben erhöht werden. So wies das Landgericht 2002 die Kündigung eines freischaffenden Künstlers zurück, der seine Fabriketage als Atelier und Wohnraum genutzt hatte. Mit Zustimmung des Vermieters hatte er sich Bad und Küche eingebaut sowie Wände in Leichtbauweise hochgezogen. Dass der neue Eigentümer davon nichts wusste, hielt das Gericht für wenig glaubhaft. Obwohl ein Gewerbemietvertrag geschlossen wurde, sei daher Wohnraummietrecht anzuwenden (LG Berlin vom 26. Februar 2002 – 25 O 78/02).
bl
wohnfabriken@h48bleibt.org
02.02.2022