Boomtown Lichtenberg: Es ist der am schnellsten wachsende der zwölf Berliner Bezirke mit 310.000 Einwohner:innen. Allein im Jahr 2023 kamen etwa 10.000 Menschen hinzu. Und das heißt: Bauen, bauen, Lichtenberg bauen. Hier leben junge Familien, Rentner, Flüchtlinge, Alt- und Neuberliner, dafür muss man die Infrastruktur schaffen, Schulen, Kitas, Gewerbe, Straßen, den Nahverkehr. Die erweiterte Strecke der U-Bahnlinie 5 mit ihren nun denkmalgeschützten Bahnhöfen führt vom Stadtrand in Hönow bis zum Hauptbahnhof. Investiert wurden für die 2,2 zusätzlichen Kilometer 525 Millionen Euro aus Bundes- und Landesmitteln. Dafür hat der Bezirk Lichtenberg nun Anschluss an die historische Mitte wie auch in die weite Welt.
Die einst dörfliche Idylle spiegelt sich nur noch in Namen, etwa im „Fennpfuhl“, einem ehemaligen Feuchtwiesengebiet südlich der Trasse der Landsberger Allee mit Plattenbauten wie sie typisch sind für den Ost-Berliner Bezirk. Der erste Regierungschef der DDR, Walter Ulbricht, forderte unter der Parole „besser, schneller, billiger“ im Jahr des Mauerbaus 1961 forcierten Wohnungsbau, insbesondere in Lichtenberg. Seinerzeit entstanden die ersten Plattenbauten, die als Muster dienten für die in den folgenden Jahrzehnten eingesetzte Wohnungsbauserie P-2. Mit dem Versuchsbau „P-2 Fennpfuhl“ und dem daraus abgeleiteten Typenbau WBS 70 wurden in der DDR über eine Million Wohnungen errichtet, und auch im Ausland, in den sozialistischen Bruderländern, war der Typ ein Verkaufsschlager.
Geschichte zeigt sich auch in den Bauten der Staatsicherheit, die bis heute das Gesicht Lichtenbergs prägen: die Zentrale an der einst abgeschirmten Normannenstraße bis hoch hinter das furchtbare Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen, mit Plattenwohnungsbauten für die Funktionärsfamilien südlich der Frankfurter Allee, die Straßen benannt nach den Mitgliedern der „Roten Kapelle“. Die Häuserzeile der Stasi an der Frankfurter Allee, die seit Jahrzehnten leersteht und verrottet, gehört dem Land Berlin.
Durch den sanierten Kaskel-Kiez mit seinen niedrigen Gründerzeithäusern und den kleinen Vorgärten und schmucken Läden geht es Richtung Ostkreuz in die Rummelsburger Bucht. Aus den noch aus der Kaiserzeit stammenden Arbeitshäusern und dem Gefängnis sind längst teure Eigentumswohnungen geworden, während auf dem Wasser in der Bucht eine Art Elendsquartier aus maroden Booten dümpelt.
Neues Gewerbe entlang der Spree
Auf einem rund 38.000 Quadratmeter großen Gelände entsteht derzeit das größte Schulbauprojekt der Hauptstadt: zwei Schulen mit Platz für 1600 Schüler:innen plus zwei übereinander gestapelte Sporthallen.
Bis 2026 soll auf der linken Seite der Hauptstraße stadtauswärts Gewerbe entstehen – die „New Work Offices“. Auf der rechten Seite wächst ebenfalls Gewerbe im großen Stil: die „Spreeküste“ am südöstlichen Spreeufer, ein 30 Hektar großes Entwicklungsgebiet. Wasserseitig am Ostkreuz hat das Unternehmen „Coral World Berlin“ mit einem riesigen Aquarium als Publikumsmagnet beim Bauamt die Aufhebung der Baupläne beantragt. Man will größer bauen, und auch ein Hotel soll es sein. Entstanden ist dort auch das Bürogebäude „B:Hub“, wenige Meter weiter plant die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Howoge den Bau von 169 Mietwohnungen. Gewerbeprojekte wie die „Axis Offices“ verändern den Stadtplan rund um das Ostkreuz. Lichtenberg ist (noch) nicht trendig wie Friedrichshain nebenan. Nördlich angrenzend liegt Marzahn, südlich die verschlafene Villen-Idylle von Karlshorst, das Dahlem des Ostens, wo derzeit jeder Quadratmeter zugebaut wird.
Einer der wichtigsten Player in Lichtenberg ist das Wohnungsunternehmen Howoge. Im Ortsteil Friedrichsfelde plant es den Bau von 300 Mietwohnungen für bis zu 600 Menschen, und auch in Alt-Hohenschönhausen soll zwischen der „Gartenstadt Hohenschönhausen“ und dem Gewerbegebiet Marzahner Straße ein neues Wohnquartier entstehen: 450 Mietwohnungen auf 27.000 Quadratmetern. An der Lichtenberger Gotlindestraße errichtet die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft trotz der Proteste der Bestandsmieter bis 2025 einen Neubau mit 42 Mietwohnungen. Die Altmieter blicken auf die Neubauten, dekoriert mit aufgemalten Blumen. In Hohenschönhausen wird die ehemalige brachiale Vertragsarbeiterunterkunft von 1977 in Zusammenarbeit mit dem Bauträger Belle Epoque umgestaltet. Es war einst einer der größten Wohnheimkomplexe der DDR.
Größte vietnamesische Community in Deutschland
Kuba und Angola haben ihre Arbeiter:innen nach dem Fall der Mauer zurückgeholt aus den Fünf-Quadratmeter-Zimmern in Ost-Berlin. Vietnam fehlte das Geld. So entstand in Lichtenberg die größte vietnamesische Community Deutschlands mit etwa 8000 Menschen, inzwischen zum Teil in der dritten Generation dort lebend, immer noch weitestgehend für sich, etwa im Dong Xuan Center, das wie ein riesiges Ufo in der Herzbergstraße gelandet scheint und dort für ein Stück Vietnam in Lichtenberg sorgt: mit Supermärkten voller Plastikramsch und asiatischen Lebensmitteln, mit Friseuren, Restaurants und allerlei Dienstleistungen, die ungeübten Augen eher verborgen bleiben.
Gleich hinter dem Center liegen die Bauten des VEB Elektrokohle, in denen 1989 die Einstürzenden Neubauten ihr erstes Konzert im Osten feierten. Lichtenberg ist eine Reise wert.
Jens Sethmann
Das Rathaus ist mit sich selbst beschäftigt
Das Bezirksamt Lichtenberg arbeitete zwei Monate lang ohne einen regulären Stadtrat für Bauen und Stadtentwicklung. Der Amtsinhaber Kevin Hönicke (SPD) wurde im Oktober suspendiert. Bezirksbürgermeister Martin Schaefer (CDU) verbot ihm die Amtsausübung und das Betreten der Diensträume. Hönicke wird vorgeworfen, Berichte über sexuelle Übergriffe durch den Katastrophen- und Zivilschutzbeauftragten des Bezirks an die Presse durchgestochen zu haben. Schaefer hat just diesen Mann damit beauftragt, die undichte Stelle ausfindig zu machen. Am 12. Dezember hat die vormalige Sozialstadträtin Camilla Schuler (Linke) das Bauressort übernommen. Hönicke wurde auf das Ressort Schule und Sport abgeschoben, welches er aber bis auf Weiteres nicht wahrnehmen kann. Das Bezirksamt ist somit vorläufig nur vier- statt sechsköpfig – die AfD hat keinen Stadtrat stellen können, der von den Bezirksverordneten akzeptiert wird. Die SPD wirft insbesondere der CDU vor, „politisches Kapital aus der Situation“ schlagen zu wollen. In der einstigen Linken-Hochburg kann die CDU im Bezirksamt nun durchregieren, denn den zwei Stadträtinnen von Linken und Grünen stehen zwei von der CDU gegenüber – und bei einem Patt gibt die Stimme des Bürgermeisters den Ausschlag.
Nach einer Meldung der Berliner Zeitung droht möglicherweise inzwischen auch der Hönicke-Nachfolgerin Schuler der Rauswurf durch den Lichtenberger Bezirksbürgermeister Schaefer, da sie auf Aufklärung der Vorwürfe gegen den Katastrophen- und Zivilschutzbeauftragten wegen sexueller Belästigung gedrängt haben soll.
js
27.02.2024