Der Mietwohnungssektor eines Landes ist ein Indikator für dessen Wohlstand und soziale Verantwortung.
Mietwohnungen bedeuten nicht Armut und schlechte Wohnqualität: Zu diesem Fazit kommt eine aktuelle Studie der Inter-American Development Bank. Ein Stadtplaner und zwei Finanzexperten hatten den Wohnungsmarkt in 20 Staaten Lateinamerikas und der Karibik über die zurückliegenden Jahre untersucht und ihre Erkenntnisse unter dem Titel „Mietwohnungen gesucht“ („Rental Housing Wanted“) zusammengefasst. Die Autoren zeigen eine Tendenz auf, die von Nicaragua (circa 5 Prozent Mietwohnungen) bis Kolumbien (40 Prozent Mietwohnungen) wahrzunehmen ist und die in den weiten ländlichen Gebieten Chiles (15 bis 20 Prozent Mietwohnungen), aber vor allem in Megastädten wie Bogotá und Santo Domingo (knapp 40 Prozent Mietwohnungen) immer deutlicher zutage tritt: Der Mietwohnungssektor spielt eine wichtige Rolle in einer Region, in der 37 Prozent der Haushalte, fast 54 Millionen Familien, unter gewaltigen Wohnproblemen leiden, weil ihre Behausungen überfüllt, schlecht gebaut oder auch an keinerlei Infrastruktur angeschlossen sind. Eine verblüffende Erkenntnis: Mit besserem Einkommen sinkt nicht etwa das Interesse an einer gemieteten Bleibe und steigt der Hang zum Eigenheim – das Gegenteil ist der Fall: Mit höherem Verdienst tritt vor allem in den Städten das Wohneigentum in der Gunst hinter gemieteten Wohnraum zurück.
Der Report zeigt damit einen Zusammenhang auf, den europäische Statistiken noch wesentlich deutlicher werden lassen: Es sind die wirtschaftlich stärksten, die reichsten Länder, die auf unserem Kontinent über einen großen Mietwohnungssektor verfügen: In der Schweiz leben 61 Prozent der Haushalte in Mietwohnungen, in Deutschland sind es 55 Prozent, in Österreich 50 Prozent und in den Niederlanden und Dänemark 43 Prozent.
Je höher das Pro-Kopf-Einkommen, desto größer die Bereitschaft zu mieten, anstatt ins eigene Heim zu ziehen. „Diese Fakten wiedersprechen so mancher Politikermeinung“, kommentiert Wolfgang Amann vom „Institut für Immobilien Bauen und Wohnen“ in Wien. Über Jahrzehnte galt in Österreich wie auch in Deutschland Wohneigentum als Mittel zur Vermögensbildung und Hebung des Lebensstandards. Amann: „Das ist auch ein Grund, warum so viele Wohnungsbestände privatisiert worden sind – doch das war eine Fehlkalkulation.“
Geförderte Mietwohnungen in Österreich beispielsweise, die von ihren Bewohnern nach zehn Jahren mehrwertsteuerfrei erworben werden können, sind als Eigentum nur wenig nachgefragt. „Lediglich ein Viertel der Mieter nimmt das Angebot an“, erläutert Amann. Wirtschaftlich stabile, reife Märkte und verlässliche Vertragsverhältnisse, so der Experte, seien die Gründe für den hohen Mieteranteil.
„Ein soziales Mietrecht „, ergänzt Barbara Steenbergen, Brüsseler Büroleiterin der „International Union of Tenants“ (IUT – Internationale Mieterorallianz), „ist mindestens genauso wichtig, weil es vor Vermieterwillkür, Wucher und Verdrängung schützt.“ Wenn sie auf die Statistik blicke, so die Interessenvertreterin, dann fielen ihr noch eine ganze Reihe anderer Ursachen ein, die den Mietmarkt in bestimmten Ländern zu einem starken Segment anwachsen ließen: Kultur, Geschichte, Tradition und schließlich auch geografische Bedingungen vor Ort. „Die Schweiz beispielsweise hat ein massives Baulandproblem“, so Barbara Steenbergen. „Denen fehlt einfach der Platz, die müssen gedrängter und in die Höhe bauen.“ Nicht nur ausländische Arbeiter wohnen in dem Alpenland zur Miete, sondern viele Schweizer selbst. „Und in Deutschland musste nach dem Krieg so schnell wie möglich bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden. Das war zu einem großen Teil nur über den Mietwohnungsbau möglich.“
Auf den Zusammenhang zwischen dem Wohlstand eines Landes und einem ausgeprägten Mietwohnungssektor – mithin auf eine soziale Wohnraumversorgung – verweisen auch folgende Zahlen: 51 Millionen junger Menschen zwischen 18 und 34 Jahren (46 Prozent) leben in Europa noch daheim bei ihren Eltern. Wo es einen öffentlichen oder geförderten Mietsektor gibt, etwa in Dänemark (43 Prozent Mietwohnungen) oder Schweden (37 Prozent Mietwohnungen), ist die Zahl derer, die sich eine erste eigene Wohnung leisten können, bedeutend höher. In Spanien (18 Prozent Mietwohnungen) sitzen über drei Viertel aller jungen Leute (78 Prozent) noch im „Hotel Mama“.
Wolfgang Amann: „Logischerweise braucht man Kapital oder Kreditwürdigkeit, um sich Wohneigentum leisten zu können – ein schwacher Mietsektor trifft demnach die Jungen und die Einkommensschwachen besonders.“ Und nicht zuletzt die Mobilen: Arbeitskräfte, die für einen Job umziehen müssen und das nicht können, weil sie keine Mietimmobilie finden.
Immobil – unbeweglich im Wortsinne – wird eine Gesellschaft, die ausschließlich auf Immobilienbesitz setzt. In ihrer Studie zum Wohnungsmarkt in Südamerika haben die Autoren auch auf den Norden des Kontinents geblickt: In den USA (um die 30 Prozent Mietwohnungen) sind es fast 60 Prozent der Haushalte mit eher niedrigem Einkommen, vor allem aber Singles, die Wohnraum gemietet und nicht gekauft haben. Und das ist der flexible Teil der amerikanischen Gesellschaft. 40 Prozent der zur Miete wohnenden US-Amerikaner zogen innerhalb der letzten zehn Jahre ein oder mehrmals um, aber nur 10 Prozent der Immobilienbesitzer.
Die Verfügbarkeit von ausreichend bezahlbaren Mietwohnungen ist eben nicht nur Ausdruck von Wohlstand, sondern entscheidende Basis für einen mobilen Arbeitsmarkt und damit wirtschaftliche Prosperität, so eine der Schlussfolgerungen der Studie. Sie drückt sich aus in der Empfehlung an die Regierungen der lateinamerikanischen Länder, ihre auf Immobilienbesitz fixierte Politik zu ändern und künftig Mittel in den Mietwohnungssektor zu investieren.
Rosemarie Mieder
MieterMagazin 7+8/14
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