Das Klima auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist merklich rauer geworden. Immer mehr Mieter stehen einem Eigentümer gegenüber, der sie mit allen Mitteln loswerden will – sei es, um die Wohnungen modernisieren und teurer vermieten zu können oder um sie als Eigentumswohnungen zu verkaufen. Es ist ein ungleicher Kampf, denn angesichts der enormen Renditeerwartungen werden Top-Anwälte, professionelle Entmietungsfirmen und mitunter sogar kriminelle Methoden aufgeboten. Auch die gezielte Verwahrlosung von Häusern bei gleichzeitiger massiver Überbelegung mit Wanderarbeitern ist mittlerweile eine gängige Vorgehensweise. Nach wie vor gibt es in den Behörden keine Strategie, wie mit solchen „Problemimmobilien“ umzugehen ist. Kein Wunder, dass sich betroffene Mieter im Stich gelassen fühlen.
Das Haus Enckestraße 4/4 a in Kreuzberg war der bezirklichen Bau- und Wohnungsaufsicht bestens bekannt. Immer wieder waren die Mitarbeiter damit beschäftigt, wenigstens die gröbsten Missstände zu beheben. „Aber letztendlich waren alle hilflos, das Bezirksamt konnte nichts ausrichten“, sagt die Mieterin Tanja Stoffenberger rückblickend. „Psychologische Kriegsführung“ nennt sie die Entmietungsschikanen, denen sie zwei Jahre lang ausgesetzt war.
Das Hinterhaus, in dem sie 15 Jahre lang wohnte, sollte für einen Neubau abgerissen werden. Wie fast immer in solchen Fällen zogen etliche Mieter bereits nach der Ankündigung aus. Sieben von ursprünglich 23 Mietparteien blieben standhaft, sie wollten sich nicht auf Abfindungsangebote einlassen. Doch der Eigentümer, die Firma Bel Invest, stand mächtig unter Zeitdruck. Der bereits im Grundbuch vorgemerkte Weiterverkauf an eine Münchner Projektentwicklungsgesellschaft stand unter einem Vorbehalt: Das Grundstück in unmittelbarer Nähe des Jüdischen Museums sollte bis zu einem bestimmten Termin mieterfrei übergeben werden. Es hätte daher viel zu lange gedauert, die Kündigungen wegen mangelnder wirtschaftlicher Verwertung vor Gericht auszufechten.
Stattdessen wurde nach und nach immer mehr Druck auf die verbliebenen Mieter ausgeübt. Zunächst wurde die Hausverwaltung abgezogen, so dass die Bewohner keinen Ansprechpartner mehr hatten. Dann wurden die leerstehenden Wohnungen matratzenweise an größere Gruppen von Rumänen vermietet. Nach deren Auszug rissen die Baufirmen Badewannen und Rohre heraus. Dadurch kam es mehrmals zu Wasserschäden in den bewohnten Wohnungen, Schimmel machte sich breit. Nebenbei hagelte es Kündigungen, wobei die Gründe an den Haaren herbeigezogen wurden. Tanja Stoffenberger berichtet, dass sie mehrmals tage- oder sogar wochenlang kein Wasser hatte. Ein andermal lief das Wasser durch die Decken bis ins Erdgeschoss, weil eine Steigeleitung gekappt worden war.
Zusammen mit einer weiteren Mietpartei harrte sie bis Ende 2014 aus und wehrte sich nach Kräften – mit Mängelanzeigen, einstweiligen Verfügungen, Strafanzeigen wegen Nötigung und öffentlichem Druck. Doch schließlich gab sie auf. Ende März 2015 zogen die letzten beiden Mieter aus. Das Schlimmste sei das Unsicherheitsgefühl gewesen, sagt Tanja Stoffenberger: „Man hatte ständig Angst, was als nächstes passiert und wie weit der Eigentümer gehen würde.“ Weil die Baufirmen die Umzäunung niedergerissen hatten, war das Haus frei zugänglich. Auch waren Dachböden und Kellertüren aufgebrochen und geplündert worden. „Da hätte eine brennende Zigarette gereicht, um eine Katastrophe auszulösen“, so die Mieterin. Mit allerlei Tricks schaffte es der Eigentümer immer wieder, die Bauaufsicht hinzuhalten und die Beseitigung der Mängel hinauszuzögern.
Dass sie am Ende eine recht hohe Abfindung bekam, ist für Tanja Stoffenberger kein Trost, zumal sie bislang keine eigene Wohnung gefunden hat, sondern erst einmal bei einem Freund untergekommen ist.
Die Polizei ist machtlos
Lieber wäre sie in ihrem sozialen Umfeld und in ihrer günstigen Wohnung geblieben. „Solche systematischen Entmietungsmethoden müssen bekämpft werden“, findet sie. Zigmal habe sie die Polizei gerufen, doch die wollte sich in „zivilrechtliche Streitigkeiten“ nicht einmischen. Lediglich als sich Drogendealer in die leerstehenden Wohnungen einquartierten, rückte die Ordnungsmacht sofort an.
Kurz nach der völligen Entmietung wurde das Hinterhaus abgerissen. Die Ausweisung als Sanierungsgebiet durch das Bezirksamt, mit dem der Abriss wahrscheinlich hätte verhindert werden können, kam zu spät. Die Baugenehmigung für den Neubau war bereits vorher erteilt worden.
Das Beispiel ist kein Einzelfall. Denn die rein renditeorientierten Investorentypen, die seit einigen Jahren auf den Berliner Markt drängen, haben kaum juristische Möglichkeiten, vertragstreue Mieter loszuwerden – erst recht nicht, wenn es schnell gehen soll. Weder Abriss noch Verkauf oder Umwandlung sind ein Kündigungsgrund. Doch für leerstehende Wohnungen lassen sich deutlich höhere Preise erzielen als für vermietete. Was tun also, wenn die Altmieter bei der Profitmaximierung im Weg stehen?
Beim Berliner Mieterverein (BMV) kennt man drei klassische Entmietungsmethoden, die im Falle der Enckestraße alle durchexerziert wurden: die Unterbrechung der Wasser- oder Wärmeversorgung, extrem lange und rücksichtslose Bauarbeiten und schließlich die Einquartierung von Obdachlosen, Wanderarbeitern, Alkoholabhängigen oder anderen problematischen Mietergruppen. Das Ziel: unerträgliche Zustände schaffen, so dass selbst hartgesottene Altmieter über kurz oder lang das Weite suchen. Meist geht es um Umwandlung in Eigentumswohnungen, manchmal auch um eine lukrative Umnutzung. So wurde vor einigen Jahren in der Boxhagener Straße 26 in Friedrichshain ein Mietshaus illegal zu einem Hotel umgebaut.
Die Mieter wurden mit den üblichen Schikanen vertrieben. Seit sieben Jahren steht der Altbau mitten im Simon-Dach-Kiez leer und gammelt vor sich hin. Trotz Milieuschutz und trotz mittlerweile geltender Zweckentfremdungsverbotverordnung ist es dem Bezirk bis heute nicht gelungen, den Rückbau und die Wiedervermietung der Mietwohnungen durchzusetzen. Kürzlich wurde das Spekulationsobjekt erneut verkauft. Auch dem neuen Eigentümer müsse sechs Monate Zeit gegeben werden, um den Leerstand zu beseitigen und das Haus wieder seinem eigentlichen Zweck zuzuführen, erklärte der Baustadtrat unlängst auf eine Kleine Anfrage in der Bezirksverordnetenversammlung.
„Beitrag zum Klimaschutz“
Es gibt aber noch einen anderen, äußerst wirksamen Hebel, mit dem es meist innerhalb kürzester Zeit gelingt, die Mieter in die Flucht zu schlagen: die Ankündigung einer Modernisierung mit exorbitanter Mietsteigerung. Gerade die energetische Sanierung wird immer häufiger dazu missbraucht, Mieter „hinauszumodernisieren“. Bestes Beispiel: die Horst-Kohl-Straße 15 A in Steglitz. Seit das Haus modernisiert und die Wohnungen in Eigentum umgewandelt werden, herrscht bei den Mietern dieses Gebäudes im Bismarckviertel große Angst und Unruhe. Nicht nur, weil sich die Mieten verdoppeln sollen, sondern auch weil die Mieter sich terrorisiert fühlen. Der Eigentümer, so sagen mehrere Bewohner, habe vor Zeugen gesagt, dass hier sowieso alle ausziehen werden. Der Bauleiter trete äußerst aggressiv auf, und Schranktüren und Bauschutt würden einfach vom dritten Stock aus dem Fenster geworfen. Zudem überzieht ein Rechtsanwalt die Mieter mit Abmahnungen und Kündigungen. Ein langjähriger Mieter ist ausgezogen, nachdem er im Hausflur von einem maskierten Mann zusammengeschlagen worden war. Die Tat wurde bis heute nicht aufgeklärt. Der Eigentümer, eine Projektentwicklungsgesellschaft, wies Vorwürfe in der Presse wiederholt zurück: Die Wohnungen würden sowohl für Selbstnutzer als auch für Kapitalanleger angeboten. Man schaffe keine Luxuswohnungen, sondern leiste einen Beitrag zum Klimaschutz, so der Eigentümer Samonig AG. Potenziellen Käufern wird auf einem Plakat das „Wohnen in vertrauter Nachbarschaft“ angepriesen. „Die meinen wohl vergraulte Nachbarschaft“, kommentiert ein Kind aus dem Haus den Spruch.
Etliche der zum Teil seit Jahrzehnten hier verwurzelten Mieter sind bereits ausgezogen, einige sind über 80 Jahre alt und völlig verzweifelt über den erlust ihres Zuhauses. „Dabei sind die meisten Maßnahmen völlig unsinnig, es macht doch keinen Sinn, auf eine dicke Altbaufassade umweltschädliches Polystyrol zu kleben“, empört sich Andreas Schömann. Er hat der Modernisierung nicht zugestimmt und lässt bis zur gerichtlichen Klärung keine Bauarbeiter in seine Wohnung.
Doch es geht noch wesentlich schlimmer, wie die Kopenhagener Straße 46 zeigt. In dem Altbau am Mauerpark, der als „Berlins brutalster Sanierungsfall“ durch die Presse ging, soll die Miete um mehr als 9 Euro pro Quadratmeter steigen. Für Sven Fischer und seine Familie bedeutet das: Statt 645 Euro sollen sie künftig 2900 Euro zahlen. Geplant ist neben Fassadendämmung und Videogegensprechanlage auch eine Wohnraumlüftungsanlage. Mittlerweile hat die Christmann AG, eine Holding, sämtliche Eigentumswohnungen verkauft. Bis auf Fischer und seine Familie sind alle Mieter ausgezogen.
Für ihn ist der Kampf um seine Wohnung seit zwei Jahren ein Fulltimejob. Fast täglich hat er Termine mit seiner Anwältin, muss zum Gericht, erwirkt einstweilige Verfügungen gegen gekappte Stromleitungen oder gibt Fernsehsendern Interviews. „Die mediale Öffentlichkeit ist unsere wichtigste Waffe“, meint er. Nachdem er kürzlich vor Gericht zur Duldung der Modernisierungsmaßnahme verurteilt wurde, baute man ihm neue Fenster ein – allerdings ohne Griffe. Für Fischer nur eine weitere Schikane in einer langen Liste von Entmietungsmethoden. Doch er weiß sich zu wehren. So setzte er durch, dass sein Vermieter ihm einen Aufwendungsersatzkostenvorschuss zahlen musste. Davon hat er unter anderem einen nächtlichen Wachschutz bezahlt, als seine Wohnung tagelang ohne Fenster war.
In Plastikfolie eingewickelt
Warum er sich das alles antut? „Zum einen würden wir hier in der Nähe nichts mehr finden, außerdem kann ich Unrecht einfach nicht hinnehmen.“ Seine Nachbarn wurden nach und nach mürbe gemacht. Acht Monate lang war das Haus in eine blickdichte Plastikfolie gewickelt. Die Kinder bekamen Hautausschläge und Atemprobleme. Die letzten ergriffen die Flucht, weil sie das Leben unter der Plane einfach nicht mehr aushielten. Eine Familie zog aus, als nach der Rückkehr aus dem Urlaub sämtliche Gegenstände in der Wohnung verschimmelt waren. „Es kann doch nicht sein, dass nur Leute bleiben können, die so ein dickes Fell haben wie ich“, sagt Sven Fischer. Daher macht er auch auf der politischen Ebene Druck. Als der Bundesjustizminister im Frühjahr 2014 zu Gast beim Berliner Mieterverein (BMV) war, schilderte er ihm anhand seiner Erfahrungen, welche Folgen eine energetische Sanierung haben kann.
Der BMV fordert schon seit langem eine Abschaffung der Modernisierungsumlage in ihrer jetzigen Form. Statt sämtliche Kosten ohne Begrenzung auf die Miete umlegen zu können, soll der Vermieter nach der Modernisierung ausschließlich bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete erhöhen dürfen. Damit würden extrem kostenintensive Maßnahmen für den Eigentümer weniger attraktiv. Doch auf eine Mietrechtsänderung wartet man bisher vergeblich.
Immerhin nimmt die seit März 2015 geltende Umwandlungsverordnung einigen Druck aus dem überhitzten Immobilienmarkt. Zumindest in Milieuschutzgebieten kann die Umwandlung in Eigentumswohnungen jetzt untersagt werden. Für die Kopenhagener Straße und viele weitere Häuser ist sie zu spät gekommen.
Besonders schlimm wird die Situation, wenn Mieter es mit einem zahlungsunfähigen Eigentümer zu tun haben. So mussten die Bewohner eines Lichtenberger Hochhauses vor einigen Jahren mitten im Winter wochenlang ohne Heizung ausharren, weil ihr Vermieter, ein Schweizer Wohnungsunternehmen, kurz vor der Pleite stand und bei den Strom- und Wasserversorgern Schulden hatte. Auch der Fahrstuhl im betroffenen Zehngeschosser in der Löwenberger Straße 2-4 fiel immer wieder aus. Reparaturen wurden nicht in Auftrag gegeben, oder die Firmen kamen nicht, weil sich herumgesprochen hatte, dass die Rechnungen nicht bezahlt würden.
Die Bildung einer Notgemeinschaft war – wie fast immer in solchen Fällen – nicht praktikabel, weil ein Großteil der Mieter von Transferleistungen lebte oder auf Grund von Sprachbarrieren nicht dafür zu gewinnen war, die Wasser- und Gaskosten direkt an die Versorger zu zahlen. Das Bezirksamt trat zwar in Ersatzleistung, setzte aber eine Frist. Als das Haus schließlich zwangsversteigert wurde, stand es zum Großteil leer. Mittlerweile werden die sanierten Mini-Apartments als „Geheimtipp für Studenten und Singles“ angeboten – für über 15 Euro warm pro Quadratmeter.
Und was tut die Bau- und Wohnungsaufsicht, um die Eigentümer an ihre Instandhaltungspflichten zu erinnern? Schließlich liegt es im öffentlichen Interesse, dass Häuser im vernünftigen Zustand erhalten und nicht, wie im Fall der Grunewaldstraße 87, dem Verfall preisgegeben werden. Bis zu 200 Zuwanderer aus dem Balkan sollen zeitweise in dem als „Horror-Haus“ bekannt gewordenen Altbau gelebt haben, in völlig überfüllten Wohnungen und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Rechtsanwalt Christoph Müller, der mehrere der Altmieter vertritt, kritisiert, dass die Behörde hier ihre rechtlichen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft habe: „Nur aus Angst, eventuell einen Prozess gegen den Eigentümer zu verlieren, ist der Bezirk hier sehr hasenfüßig vorgegangen.“ Einige der möglichen Vorgehensweisen seien den Amtsmitarbeitern gar nicht bekannt gewesen, etwa die Zwangsverwaltung als Ultima Ratio. Zudem habe die Bauaufsicht ihre Begehungen vorher angekündigt, so dass vorher noch schnell der gröbste Müll im Hof beseitigt werden konnte. Sein Fazit: Die Wohnungsaufsicht habe in Zeiten einer neoliberalen Politik keinen besonderen Rückhalt bei den politisch Verantwortlichen.
Bauaufsicht ohne Rückhalt
In der Tat haben mehrere Bundesländer die Bau- und Wohnungsaufsicht sogar abgeschafft. Auch in Berlin war das vor einigen Jahren im Gespräch. Eine Verschärfung beziehungsweise passgenaue Ausrichtung auf vernachlässigte Problemhäuser, wie man sie vor einem Jahr in Nordrhein-Westfalen beschlossen hat, hält man in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung für völlig unnötig. Die gesetzlichen Instrumentarien seien ausreichend, um Missstände zu beseitigen, heißt es in einer Stellungnahme an das MieterMagazin. Die Schwierigkeiten lägen vor allem in der Umsetzung, insbesondere im tatsächlichen Vollzug angeordneter Maßnahmen. Ein landesweites Konzept, wie man die Zustände in den 49 bekannten großen Problemimmobilien in den Griff bekommt, ist nicht vorgesehen. Dabei ist die bettenweise Vermietung heruntergekommener Wohnungen an Roma-Familien ein zunehmendes Problem – auch für die Zuwanderer selber, deren Not hier in schamloser Weise ausgenutzt wird. Bisher gibt es rechtliche Probleme, die massive Überbelegung als Zweckentfremdung zu ahnden. Zumindest in dieser Hinsicht muss nachgebessert werden, forderte Neuköllns Bürgermeisterin Giffey kürzlich in einem Interview mit dem RBB.
Auch beim BMV fordert man mehr Eingriffsmöglichkeiten für die Wohnungsaufsicht – deren gesetzliche Aufgabe es ist, auf die Beseitigung von Instandhaltungsmängeln hinzuwirken. BMV-Geschäftsführer Reiner Wild verlangt, in krassen Fällen von Verwahrlosung die Bewirtschaftungsbefugnisse über eine Treuhänderschaft der öffentlichen Hand zu übertragen. „Dafür müssen die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, außerdem muss ein entsprechender Fonds aufgelegt werden.“ Dass die Wohnungsaufsicht ein „stumpfes Schwert“ ist, läge vor allem am zeitraubenden Anhörungsverfahren. Bisher können die Vermieter die Sache endlos in die Länge ziehen, indem sie der Behörde immer wieder versichern, dass sie die Mängel bald beseitigen. Das Verwaltungsverfahrensgesetz, so Wild, müsse daher verschärft werden, damit ein solches Taktieren unterbunden wird.
Schließlich: Warum gibt es eigentlich keinen Häuser-TÜV? Jeder Kleinwagen wird regelmäßig auf seine Funktionstüchtigkeit hin überprüft, Wohnhäuser dagegen können heruntergewirtschaftet werden, bis sie abbruchreif sind. Sicherlich wäre ein solcher TÜV ein Eingriff in die Eigentumsrechte, aber das ist beim Auto schließlich nicht anders. Und einen Anspruch in diesem Sinne haben die Verfassungsgeber als so wesentlich eingeschätzt, dass sie ihn in das Grundgesetz geschrieben haben: Eigentum verpflichtet.
Birgit Leiß
„Ein neues Wohnungsaufsichtsgesetz ist überfällig“
MieterMagazin: In wie vielen Fällen wurde in den vergangenen Jahren in Ihrem Bezirk eine Wohnung gesperrt oder andere Zwangsmaßnahmen ergriffen?
Sibyll Klotz: Sperrungen sind immer dann notwendig, wenn eine unmittelbare Gefahr bei der Weiternutzung droht. In den letzten Jahren gab es keine derartigen Sperrungen, da weder Beschwerden von Mietern noch Feststellungen des Außendienstes vorlagen, die dies gerechtfertigt hätten. Auch Zwangsmaßnahmen wie Bußgelder und Ersatzvornahmen mussten in den letzten Jahren in Tempelhof-Schöneberg nicht verhängt werden. Die mündliche oder schriftliche Aufforderung, Mängel zu beseitigen, hat im Regelfall ausgereicht. Nur vereinzelt musste die Aufforderung per Anordnung mit der Androhung von Zwangsmaßnahmen erfolgen
MieterMagazin: Aber offenbar können die Bezirke in solchen Fällen wie der Grunewaldstraße 87 nicht effektiv eingreifen.
Sibyll Klotz: Die Wohnungsaufsicht hat eingegriffen und auch viel erreicht – von diversen Sondermüllabfuhren bis hin zu zahlreichen Reparaturen, von der Schließung leerstehender Wohnungen bis zur Trocknung von Wänden, die durch Wasserschäden beschädigt wurden. Allerdings setzt das Wohnungsaufsichtsgesetz in erster Linie auf Freiwilligkeit beim Eigentümer, und das klappt bei „normalen“ Eigentümern auch meist. Die Eigentümer von Problemimmobilien sind aber keine normalen Eigentümer. Um einem solchen „Geschäftsmodell“ wie in der Grunewaldstraße 87 zu begegnen, brauchen wir eine abgestimmte gesamtstädtische Strategie, bei der zum Beispiel auch die Steuerbehörden eine Rolle spielen.
MieterMagazin: Wo sehen Sie konkret Verbesserungsmöglichkeiten? Könnte das neue Wohnungsaufsichtsgesetz in Nordrhein-Westfalen wegweisend sein?
Sibyll Klotz: Auch mit dem Wohnungsaufsichtsgesetz aus Nordrhein-Westfalen wird man nicht alle Probleme lösen können, aber es ist besser als das unsere. Beispielsweise ist dort vorgesehen, dass der Eigentümer bei einer von ihm selbst verursachten Unbewohnbarkeit auf Verlangen der Behörde Ersatzwohnraum beschaffen muss. Deshalb empfehle ich auch, dem grünen Gesetzentwurf im Abgeordnetenhaus zuzustimmen, der lehnt sich nämlich an Nordrhein-Westfalen an. Vorgeschlagen wird hier unter anderem die Einführung eines Tatbestandes der Verwahrlosung mit den daran geknüpften Eingriffsmöglichkeiten der Bezirke bereits im Vorfeld eintretender Missstände. Wenn alle an einem Strang ziehen, könnten wir bis zum Jahresende ein neues Gesetz haben.
Das Interview führte Birgit Leiß.
11.06.2018