Von einem kinderfreundlichen Deutschland, wie es Familienministerin Ursula von der Leyen fordert, ist die Bundesrepublik weit entfernt – vor allem im Alltag. Das Thema Kinderlärm – ob vom Sandkasten auf dem Hof oder aus der Wohnung ein Stockwerk höher – ist ein Dauerbrenner.
Für Holger Hofmann, Projektleiter für Spielraum beim Deutschen Kinderhilfswerk, steht das Problem Kinderlärm in einem größeren Zusammenhang: Der öffentliche Raum sei insgesamt nicht kindergerecht. „Stadtplanung berücksichtigt viele Bedürfnisse: die der Autofahrer, der Radfahrer und auch der Fußgänger, aber nicht die der Kinder.“ Die Qualität des Spielraumes sei mangelhaft, es gebe keine gestaltbaren Räume und keine Rückzugsmöglichkeiten mehr. Doch Kinder brauchen Räume für sich. Das ist in einer Stadt zwar schwierig, aber nicht unmöglich – auch wenn der Sandkasten im Hof steht und der Spielplatz vor einer Balkonreihe einer Wohnsiedlung.
Die Folgen der eingeschränkten Spielmöglichkeiten sind fatal. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist zu dick. Kevin auch. Der Sechsjährige wurde jetzt eingeschult. Er wohnt im Rollbergkiez in Neukölln, einem Quartiersmanagementgebiet. Während der Ferien verbrachte er viel Zeit mit seinen Freunden auf einem Spielplatz am Landwehrkanal. Aber am liebsten spielt er zu Hause vor dem Computer „Bob der Baumeister“. Selber baut er nicht, jedenfalls keine Sandburgen. Er ist kein Einzelfall. Und es gibt immer mehr Kinder mit motorischen Defiziten und Haltungsschäden.
Schnelle Verbote
Holger Hofmann kritisiert, dass Wohnungsbaugesellschaften oftmals zu schnell auf den Protest von Anwohnern reagieren. „Wenn Mieter sich beschweren, dass zu laut Fußball gespielt wird, steht in zwei Wochen ein Schild ‚Fußballspielen verboten‘.“ Erika Kröber, Sprecherin des Wohnungsunternehmens Degewo, rät zum Dialog. Anwohner, die sich durch Kinderlärm gestört fühlen, sollten versuchen, die Situation selbst zu klären. „Wir raten den Betroffenen, mit den Eltern und den Kindern zu reden.“ Eine lautstarke Ermahnung vom Balkon aus hat allerdings wenig Aussicht auf Erfolg, denn Kinder nehmen dies nur als Konfrontation wahr.
Häufig wählen von Lärm genervte Anwohner den Weg über die Gerichte. Für Hofmann eine falsche Entscheidung, denn Kinder werden vor Gericht weder gehört noch in Lösungsmöglichkeiten einbezogen. Auch die bislang bekannt gewordenen Urteile sind meist Kompromisse, die auf Kosten der Kinder gehen. Hofmann: „Wann sollen Kinder spielen, wenn die Benutzung des Spielplatzes am Wochenende untersagt wird? Wochentags sind sie in der Schule.“
Im Prinzip ist Kinderlärm – oder das lautstarke Spielen von Kindern, wie es das Kinderhilfswerk denn auch lieber nennt – in den meisten Fällen als sozialadäquat hinzunehmen. Die Interessen des Erwachsenen müssen vor dem Spielbedürfnis des Kindes zurücktreten (unter anderem VG Karlsruhe 13 K 43/98, AG Wedding 19 C 644/99).
Wer sich Kinderlärm nicht aussetzen möchte, sollte vor dem Einzug in eine Wohnung darauf achten, ob sich Spielmöglichkeiten für Kinder in unmittelbarer Nähe der Wohnung befinden. Doch selbst wenn bei Abschluss des Mietvertrages noch nicht klar war, dass auf einer Freifläche ein Kinderspielplatz geschaffen wird, muss man deren Errichtung dulden (LG Berlin 64 S 423/03). Grundsätzlich ist ein Mieter berechtigt, auf einem ihm zur Mitbenutzung überlassenen Garten einen Spielplatz anzulegen, so eine Entscheidung des Amtsgerichts Bonn von 1994. Das Spielen von Kindern und die damit verbundenen Geräusche sind „unvermeidbare Lebensäußerungen“ (VG Koblenz 1 K 1074/03).
Mehr Engagement von den Wohnungsbaugesellschaften wäre wünschenswert, meint Hofmann. Die Rechte für Kinder in den Hausordnungen zu verankern, sieht er als eine Möglichkeit an. Auch die Einbeziehung von bestehenden Mieterbeiräten kann zu einer Lösung beitragen.
Michaela Müller
MieterMagazin 10/08
Am Lärm von spielenden Kindern entzweien sich oft Nachbarschaften
Foto: Kerstin Zillmer
Rat und Tat
Die UN-Kinderrechtskonvention
1990 trat die UN-Kinderrechtskonvention in Kraft. Keine andere Konvention ist von mehr Mitgliedsstaaten ratifiziert worden. Außer den USA und Somalia haben alle Staaten der Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Wie andere Konventionen sind die Bestimmungen vor Gericht nicht einklagbar, sondern lediglich Handlungsempfehlungen für den Richter. In 40 Artikeln werden die Rechte verankert, unter anderem das Recht des Kindes auf Spiel und Erholung. Das Recht auf Nichtdiskriminierung sowie der Zugang zu medizinischer Versorgung, sauberes Wasser und Nahrung sind weitere wichtige Bestimmungen. Die Einhaltung der Bestimmungen überwacht der zuständige Ausschuss bei den Vereinten Nationen, der Ausschuss für die Rechte des Kindes.
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24.12.2018