Armut, Frust und das Gefühl, abgehängt zu werden: In benachteiligten Kiezen kippen mit der Stimmung auch die Nachbarschaften, und die Chancen auf Änderung verschlechtern sich immer weiter. Das Quartiersmanagement (QM) soll die Abwärtsspirale aufhalten. Viel ist in den 20 Jahren praktischer Anwendung erreicht worden, aber es gibt auch Kritik.
Donnerstagvormittag, 10 Uhr: Die Händler haben ihre Marktstände zwischen Mehringplatz und Friedrichstraße platziert, erste Einkäufer gehen durch die Reihe, da gibt es Ärger. Ein Verkaufswagen steht dem großen Blumenkübel im Weg, der gerade an dieser Stelle aufgestellt werden soll. Kurz entschlossen geht der Händler auf die gegenüberliegende Glastür zu und klingelt: „Können wir kurz reinkommen?“, fragt er Candy Hartmann, die Mitarbeiterin im Büro des Quartiermanagements Mehringplatz.
Die Blumenkübel fallen tatsächlich in ihr Ressort: „Wir haben sie mal selbst gebaut, aus Mitteln des Programms ,Soziale Stadt’“, erklärt sie. Die Pflanzen sollten Farbe ins Grau ringsum bringen, den Beton um das große Plattenbaurondell nahe dem Halleschen Ufer auflockern. Das war im Jahr 2008 und das Quartiersmanagement Mehringplatz gerade drei Jahre alt.
Ein Senatsbeschluss im März 1999 war die Geburtsstunde des QM. Mit seiner Hilfe sollten ärmere Stadtteile unterstützt werden – Quartiere, die im sozialen Ranking weit hinten lagen, und denen drohte, von der gesamtstädtischen Entwicklung abgehängt zu werden, weil hier viele Menschen arbeitslos waren, ein großer Teil von ihnen einen Migrationshintergrund hatte, Sprach- und Bildungsdefizite aufwies oder weil Überalterung drohte.
„Vorbilder für eine solche Förderung gab es in den 1970er Jahren bereits in den USA und Großbritannien, wo mit dem Niedergang ganzer Industriezweige auch Quartiere und Städte verfielen“, erinnert sich der Stadtsoziologe Sigmar Gude. „Da gab es längst die Erkenntnis, dass eine bauliche Sanierung nicht ausreicht, dass die soziale Infrastruktur entwickelt, Nachbarschaften gestärkt werden müssen.“ Dabei geht man davon aus, dass selbst in problematischen Quartieren wichtige Ressourcen bereitstehen, mit deren Aktivierung die Lage stabilisiert werden kann. Zu allererst sind das die Bewohner selbst, die mit ihren Ideen und Bedürfnissen ernst genommen und einbezogen werden müssen.
Zu den Berliner Kiezen, die besondere Aufmerksamkeit brauchen, gehören innerstädtische Quartiere wie der Kreuzberger Mehringplatz, aber auch Stadtteile am Rande Berlins.
In der Spandauer Großsiedlung Falkenhagener Feld hatte sich beispielsweise die Situation in den 1990er Jahren durch Abwanderung, Leerstand und den hohen Anteil arbeitsloser Bewohner immer weiter verschlechtert.
Nachbarschaftliche Begegnung braucht Raum
„Die Nachbarschaften drohten zu kippen“, sagt Karl-Heinz Fricke vom Quartiersmanagement Falkenhagener Feld West, das 2005 für die Förderung ausgewählt wurde. In den darauffolgenden Jahren ist viel in Bewegung gekommen: Das Gebäude einer evangelischen Gemeinde konnte zum Stadtteilzentrum umgestaltet werden, in dem sich heute unterschiedliche Angebote finden – vom gemeinsamen Kochen über Sprachkurse, Beratungsangebote bis hin zur Stadtteilkultur. „Begegnungen von Nachbarn brauchen eben auch Räume“, unterstreicht Fricke.
14 Jahre Quartiersmanagement haben auch am Mehringplatz einiges verändert: „Bei uns ist eine lebendige Nachbarschaft gewachsen“, meint Candy Hartmann. Dazu hätten die vielen Qualifizierungsangebote beigetragen, die in den ersten Jahren einen Schwerpunkt des Berliner Förderprogramms darstellten.
„Ob das Sprachförderung von Kindern war, das Organisieren von Ferienlagern oder auch die Kurse für Erwachsene – es haben sich viele Kontakte entwickelt.“ Als dann zunehmend der Aufbau von Netzwerken und Strukturen im Mittelpunkt stand, stellten die Kiezmanager am Mehringplatz Verbindungen zwischen ansässiger Kita und Schule, Freizeiteinrichtungen und Familienzentren her. Entstanden ist das Bildungsnetzwerk Südliche Friedrichstadt, das inzwischen vom Bezirksamt finanziert wird.
„Wir stoßen an – und dann muss es irgendwann von alleine laufen“, erklärt Candy Hartmann ein Grundprinzip des Quartiersmanagements. Das gilt allerdings auch für die Einrichtungen selbst. Denn die Förderprogramme sind nicht auf Dauer angelegt: In regelmäßigen Abständen prüft der Senat die Entwicklung in den Vierteln und lässt im Erfolgsfall auch Maßnahmen auslaufen. „Verstetigen“ nennt sich dieser Prozess in der Amtssprache, auf den die Arbeit der Kiezmanager hinausläuft: Sie sollen sich eines Tages selbst überflüssig machen. So wurden 2017 beispielsweise 16 der insgesamt 34 Berliner Quartiersmanagement-Gebiete auf ihre „Verstetigungsreife“ hin überprüft. Das Resultat: Neun Berliner Kieze werden 2020 aus dem Programm gestrichen. Die Mittel gehen dann an andere benachteiligte Viertel.
Wie lässt sich das Entstandene bewahren?
Unter denen, die ihr Vor-Ort-Büro zuschließen müssen, sind drei Quartiere aus Neukölln: Die Kieze Körnerpark und Schillerpromenade sowie das Viertel Lipschitzallee/Gropiusstadt. „Mit dem Quartiersmanagement wurde eine Menge erreicht“, erklärt Jochen Biedermann, in Neukölln als Stadtrat für Stadtentwicklung, Soziales und Bürgerdienste verantwortlich. So wurden Projekte in Kitas und Schulen entwickelt und die Jugendarbeit verstärkt.
„Aber es stellt sich schon die Frage: Wie lässt sich das Entstandene denn jetzt bewahren?“, fragt Biedermann. In der Gropiusstadt sei die Situation nach wie vor schwierig. „Aus meiner Sicht muss bezirksübergreifender agiert werden“, meint der Stadtrat. Stattdessen aber bleibe viel Beispielhaftes aus dem Quartier im Quartier, andererseits würden auch positive Erfahrungen von außen nicht in notwendigem Umfang einbezogen. Stadtforscher Sigmar Gude kritisiert, „dass Projekte, die erfolgreich waren, wieder weggekürzt werden.“ Stattdessen sollte erhalten bleiben, was sich über lange Jahre bewährt hat.
Das Vor-Ort-Büro am Mehringplatz steht vorerst nicht vor der Verstetigung. Wer das jahrelange Baugeschehen im Kiez kennt, dem dürfte auch klar sein, dass Candy Hartmann und ihre Kolleginnen dringend an dieser Stelle gebraucht werden: „Die Bewohner sind täglich mit Baulärm, Schutt, Staub und dem engen Platz konfrontiert – manche müssen auch einfach mal hier reinkommen und 20 Minuten schimpfen können. Sie gehen erleichtert wieder raus, denke ich.“ Und was sie häufig auch mitnehmen ist Zuversicht – dass es trotz allem vorangeht.
Rosemarie Mieder
Bundesweites Erfolgsmodell
Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ gilt deutschlandweit als Erfolgsmodell. Seit 1999 wurden in über 500 Städten und Gemeinden mehr als 900 Gesamtmaßnahmen für die Quartiersentwicklung durchgeführt. Berlin unterstützte in diesen 20 Jahren 42 Stadtviertel und gab über 472 Millionen Euro für Projekte und Maßnahmen aus. Im Mittelpunkt der Förderung in den Quartieren stehen: Bildung, Ausbildung und Jugend, Arbeit und Wirtschaft, Nachbarschaft und öffentlicher Raum sowie Beteiligung, Vernetzung und Einbindung der Partner.
Auf einem Bundeskongress „Mehr Quartier für alle – 20 Jahre Soziale Stadt“ wird am 26. November diesen Jahres in der Gropiusstadt Bilanz gezogen und beraten, mit welchen Strategien die zukünftigen Herausforderungen in den Quartieren bewältigt werden können.
rm
01.10.2019