Können Menschen, die lange in Heimen untergebracht oder auf der Straße waren, wieder in einer eigenen Wohnung leben? Mit sensibler Begleitung und Unterstützung durchaus. Das eigene Zuhause macht Obdachlose nicht nur wieder zu Mietern, sondern eröffnet ihnen meist auch eine neue Lebensperspektive. Ein Berliner Modellprojekt kann inzwischen selbst Vermieter vom guten Gelingen überzeugen.
„Wenn jemand nach langer Wohnungslosigkeit das erste Mal wieder in eigenen vier Wänden steht, dann ist das eine Herausforderung, die ohne Hilfe nicht zu stemmen ist“, sagt Sebastian Böwe. Der Wohnraumkoordinator arbeitet seit Oktober vergangenen Jahres in dem Modellprojekt „Housing First Berlin“, das jenen Menschen wieder zu einer Wohnung verhelfen will, die allein keinerlei Chance auf einen festen Mietvertrag haben. Böwe: „Sie haben vielleicht jahrelang vom Flaschensammeln gelebt, sind durch unterschiedliche Heime gegangen, kommen aus einem schlimmen Kreislauf – Straße, Drogen, Haft, Straße.“ Für die meisten Vermieter sei es eine schwierige Klientel, auch weil die Betroffenen oft nicht in der Lage wären, eigenständig in einer Wohnung zu leben beziehungsweise sie zu unterhalten.
Housing First Berlin, finanziert vom Land und durchgeführt mit Neue Chance gGmbH und der Berliner Stadtmission, hat sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2021 für 40 Betroffene eine Wohnung zu finden. Einbezogen ins Projekt ist außerdem der Sozialdienst katholischer Frauen. Der Träger will in den drei Jahren für 30 obdachlose Frauen eine Wohnung finden – „und das für alle Betroffenen dauerhaft“, erklärt Corinna Müncho, Projektleiterin von Housing First Berlin. „Dafür müssen sie jedoch über eine lange Zeit betreut und begleitet werden.“
Aber erst einmal galt es, auf dem leergefegten Berliner Markt Wohnungen zu finden. Für Sebastian Böwe ein Vollzeitjob: „Ich bin anfangs zu allen städtischen Wohnungsbaugesellschaften gegangen und habe unser Konzept vorgestellt. Heute arbeiten wir längst auch mit Wohnungsgenossenschaften und privaten Vermietern zusammen, etwa der Deutschen Wohnen und Vonovia.“
Und inzwischen bekommt Housing First sogar Wohnungsangebote, ohne nachzufragen. Dabei waren die Ängste anfangs überall die gleichen: Können sich Menschen, die vorher Jahre auf der Straße gelebt haben, überhaupt in eine Nachbarschaft integrieren? Werden sie ordentlich mit der Wohnung umgehen und kommt die Miete regelmäßig?
Corinna Müncho: „Klar ist, ohne Unterstützung packen sie das nicht.“ Die Mitarbeiter von Housing First begleiten beim Gang zu Ämtern, beim Aussuchen von Möbeln und buchstäblich auch beim ersten Schritt in die Wohnung. Denn der sei ganz und gar nicht leicht.
Sebastian Böwe. „Es verändert sich komplett die Tagesstruktur der Betroffenen. Und nicht selten stellt sich dabei heraus, dass die Wohnungslosigkeit nicht das Hauptproblem war.“ Psychische Traumata und Abhängigkeiten müssen aufgearbeitet und therapiert werden. Es geht auch darum, wieder Kontakte zu Mitmenschen, vielleicht zur eigenen Familie, aufzunehmen.
Es wird niemand weggeschickt
Solch aufwendige Betreuung aber lohnt sich in den allermeisten Fällen. Da ist beispielsweise die 24-Jährige, die in ihrer eigenen Wohnung die Kraft fand, eine Fachschulausbildung zu beginnen. Und der über 70-Jährige, der endlich den Mut hatte, seine Augen operieren zu lassen.
Für 20 ehemalige Langzeitobdachlose wurde bisher ein Zuhause gefunden. Der Sozialdienst katholischer Frauen vermittelte dazu noch einmal 21 Mietverträge. Dieser Erfolg hat sich rasch herumgesprochen, und so gibt es eine lange Warteliste. Böwe: „Aber wir schicken niemanden weg, der uns um Hilfe bittet.“
Rosemarie Mieder
Ein Erfolgsmodell
Housing First ist ein international erfolgreich erprobter Ansatz zur Überwindung von Obdachlosigkeit. Im Gegensatz zu herkömmlichen Betreuten Wohnformen versorgt es Menschen bedingungslos mit einer Wohnung und einem eigenen Mietvertrag. Seine Zielgruppe sind vor allem langjährig wohnungslose Menschen, die unter Suchtproblemen und psychischen Erkrankungen leiden. Eine von der EU-Kommission finanzierte Studie aus dem Jahr 2013 konnte nachweisen, dass es etwa in Amsterdam, Glasgow, Kopenhagen und Lissabon gelungen ist, 80 bis 90 Prozent aller Menschen in Housing-First-Projekten wieder dauerhaft mit einer Wohnung zu versorgen. Der „Housing First Guide Europe“ konstatierte 2016 ähnlich hohe Quoten der dauerhaften Beendigung von Wohnungslosigkeit für Projekte in Norwegen (93 %), Schweden (84 %) und Österreich (98,3 %).
rm
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23.11.2019