Kündigungswiderspruch nach § 574 BGB
Stand: 1/17
Eine vom Gericht festgestellte rechtmäßige Kündigung des Vermieters (zum Beispiel wegen Eigenbedarfs) führt nicht in jedem Falle dazu, dass der Mieter die Wohnung räumen muss. Er hat nämlich das Recht, Widerspruch gegen die Kündigung zu erheben und Fortsetzung des Mietverhältnisses zu verlangen, wenn die vertragsgemäße Beendigung des Mietverhältnisses für ihn, seine Familie oder für einen Angehörigen seines Haushaltes eine Härte bedeuten würde und diese auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist (die sogenannte „Sozialklausel“ nach § 574 Abs. 1 BGB). Geht die Abwägung zugunsten des Mieters aus, kann das Gericht anordnen, dass das Mietverhältnis zeitlich befristet oder unbefristet fortgesetzt wird.
Folgende Fragen behandelt dieses BMV-Info zur Sozialklausel:
- Angemessener Ersatzwohnraum
- Ersatzraumbeschaffungspflicht des Mieters
- Weitere Widerspruchsgründe
- Interessenabwägung
- Beweislast für das Vorliegen von Härtegründen
- Form und Frist des Widerspruchs
- Gegenseitige Aufklärungspflichten
- Befristete oder unbefristete Verlängerung
- Anpassung der Vertragsbedingungen
- Mehrmaliger Widerspruch
Die Sozialklausel findet keine Anwendung:
- bei Zeitmietverträgen ohne Kündigungsschutz nach § 575 BGB (siehe Info Nr. 18);
- bei möblierten Zimmern in der Wohnung des Vermieters (es sei denn, sie werden von einer Familie auf Dauer bewohnt);
- bei nur zu vorübergehendem Gebrauch gemietetem Wohnraum;
- wenn der Mieter selbst das Mietverhältnis gekündigt hat;
- wenn eine fristlose Kündigung gegen den Mieter berechtigt ist, auch wenn der Vermieter „nur“ ordentlich gekündigt hat (AG Lörrach v. 24.5.2012 – 4 C 50/12 -). Es ist allerdings immer eine Härte-Abwägung nach § 543 Abs. 1 BGB erforderlich, BGH v. 9.11.2016 – VIII ZR 73/16;
- wenn ein Untermietverhältnis mit einer Gemeinde oder einem privaten Träger der Wohlfahrtspflege begründet wurde.
1. Angemessener Ersatzwohnraum
Eine Härte liegt in jedem Falle vor, wenn angemessener Ersatzwohnraum zu zumutbaren Bedingungen nicht beschafft werden kann.
Welche Ersatzwohnung für einen gekündigten Mieter angemessen ist, muss von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Mieters geprüft werden. Als „angemessene Ersatzwohnung“ wird nur eine Wohnung in Betracht kommen, die nach ihrer Größe und Ausstattung eine menschenwürdige Unterbringung aller zum Haushalt gehörenden Familienmitglieder gewährleistet. Auf eine Obdachlosenunterkunft oder ein Alten- oder Pflegeheim (OLG Karlsruhe v. 3.7.1970 – 1 REMiet 1/70 -) muss sich der Mieter nicht verweisen lassen.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass jeder Erwachsene und jeweils 2 Kinder – bis zum 18. Lebensjahr bei gleichem Geschlecht, bis zum 8. Lebensjahr bei verschiedenem Geschlecht – je ein Wohn- oder Schlafzimmer benötigen. Aber auch Beruf (Notwendigkeit eines Arbeitszimmers) und Gesundheitszustand (Tbc-Erkrankung) des Mieters und seiner Familienmitglieder sind zu berücksichtigen. Bei der Frage der „zumutbaren Bedingungen“ wird das Gericht die Höhe der Miete im Verhältnis zum Familieneinkommen – auch unter Berücksichtigung der möglichen Inanspruchnahme des Wohngeldes – zu prüfen haben.
Bei angespannter Wohnungsmarktlage ist es nahezu unmöglich, innerhalb der gesetzlichen Kündigungsfrist Ersatzwohnraum zu zumutbaren Bedingungen zu finden. Deshalb hat die ältere Rechtsprechung in einem solchen Fall regelmäßig das Mietverhältnis über die Kündigungsfrist hinaus verlängert (AG Freiburg v. 19.12.1990 – 6 C 3862/90 -; AG Stuttgart v. 23.11.1990 – 35 C 8848/90 -; LG Düsseldorf v. 10.4.1991 – 21 S 596/89 -; AG Freiburg v. 14.12.1990 – 10 C 2250/90 -). Es bleibt abzuwarten, wie die Gerichte auf die gegenwärtige besorgniserregende Wohnungsknappheit reagieren.
2. Ersatzraumbeschaffungspflicht des Mieters
Der Mieter muss nicht in jedem Fall sofort nach Erhalt der Kündigung eine Ersatzwohnung suchen. Diese Verpflichtung besteht erst dann, wenn er von der Berechtigung der Vermieterkündigung bzw. der Erfolglosigkeit einer eigenen Verteidigung ausgehen muss. Dann aber muss der Mieter sich ernsthaft um eine Ersatzwohnung bemühen. Er sollte hier Adressen der besichtigten Wohnungen, vergebliche Wohnungsnachfragen, z.B. auch bei Wohnungsunternehmen, Maklern, Wohnungsamt usw. notieren, um seine vergeblichen Versuche vor Gericht beweisen zu können.
3. Weitere Widerspruchsgründe
Folgende Umstände können nach der – immer auf den Einzelfall bezogenen – Rechtsprechung eine Härte bedeuten:
Hohes Alter (LG Köln v. 1.10.1991 – 12 S 181/91 -; LG Düsseldorf v. 26.6.1990 – 24 S 77/90 -; LG Braunschweig v. 19.1.1990 – 6 S 199/89 -; LG Hamburg v. 13.12.1988 – 16 S 81/88 -; LG Hannover v. 21.1.1988 – 3 S 341/87 -);
körperlicher und seelischer Schwächezustandes des alten Mieters (LG Stuttgart v. 10.6.1992 – 5 S 48/92 -);
Invalidität, Gebrechlichkeit (OLG Karlsruhe v. 3.7.1970 – 1 REMiet 1/70 -),
mehrfache körperliche und geistige Behinderung mit zu erwartender signifikanter Gesundheitsverschlechterung im Falle eines Umzugs (LG Lübeck v. 21.11.2014 – 1 S 43/14 -),
Aidserkrankung des Lebensgefährten des Mieters (LG Hamburg v. 19.12.1996 – 333 S 56/95 -),
starke Fehlsichtigkeit (AG Charlottenburg v. 16.1.2009 – 238 C 220/08 -),
Autismus eines Angehörigen (LG Aachen v. 28.9.2005 – 7 S 66/05 -),
am Tourettesyndrom leidender Mieter (LG Lüneburg v. 23.2.2005 – 6 S 124/04 -),
multiple Sklerose mit Depressionen und Suizidgefahr (AG Schöneberg v. 9.4.2014 – 12 C 340/12 -),
Räumung wird als komplettes Infragestellen der Lebensleistung interpretiert, was zu Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit führt (LG Berlin v. 8.7.2015 – 65 S 281/14 -),
Schuldunfähigkeit („Messie-Syndrom“) (AG Konstanz v. 20.7.2005 – 4 C 741/04 -),
total auf die Wohnung des verstorbenen Ehepartners fixierte Witwe (LG Berlin v. 4.5.2010 – 65 S 352/09 -),
Schwangerschaft (LG Dortmund v. 8.10.1965 – 11 T 35/65 -),
Schwierigkeiten bei der Ausbildung der Kinder, z.B. Umschulungen (LG Wuppertal v. 2.10.1969 – 9 S 121/69 -; AG Dortmund v. 7.10.2003 – 125 C 6414/03 -),
bevorstehendes Examen (LG Aachen v. 27.2.1985 – 7 S 182/84 -),
geringes Einkommen (LG Mannheim v. 15.11.1973 – 12 T 151/73 -),
schwere Erkrankung (LG Braunschweig v. 19.1.1990 – 6 S 199/89 -; AG Miesbach v. 22.2.1979 – C 549/78 -; AG Münster v. 9.7.1971 – 4 C 118/70 -; AG Mitte v. 7.6.2016 – 116 C 190/15 -),
Möglichkeit einer optimalen Pflege des kranken Mieters durch im Nachbarhaus wohnende Angehörige (AG Lübeck v. 26.9.2002 – 27 C 1621/02 -),
besondere finanzielle Aufwendungen für die Wohnung (OLG Frankfurt v. 23.6.1971 – 14 W 14/71 -; OLG Karlsruhe v. 31.3.1971 – 1 REMiet 2/70 -; LG Kiel v. 18.10.1990 – 1 S 146/90 -; LG Hamburg v. 4.9.1989 – 7 T 127/89 -),
lange Mietdauer (LG Koblenz v. 22.9.1989 – 14 S 69/89 -; LG Hamburg v. 10.2.1987 – 16 S 274/86 -; a.A. LG Berlin v. 2.12.2003 – 65 S 295/03 -: Allein die Wohndauer begründet keine Härte, ansonsten wären langfristige Mieter unkündbar),
Zwischenumzug (LG Stuttgart v. 22.8.1990 – 5 S 441/89 -; LG Mannheim v. 26.3.1976 – 4 S 135/75 -).
Härtegründe können auch in der Person der Haushaltsangehörigen gegeben sein, z.B. Mutter (LG Koblenz v. 14.1.1991 – 12 S 385/89 -).
Die Rechtsprechung erkennt eine Härte i.d.R. nur an, wenn mehrere der oben angegebenen Härtegründe gleichzeitig gegeben sind.
Insbesondere hohes Alter, schlechter Gesundheitszustand, die zu erwartenden negativen Folgen eines Wohnungswechsels und die lange Wohndauer in der gekündigten Wohnung sind Gründe, die häufig zusammen vorliegen (LG Düsseldorf v. 26.6.1990 – 24 S 77/90 -).
4. Interessenabwägung
Das Gericht muss das Interesse des Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses und das Mieterinteresse gegeneinander abwägen.
Bei der Abwägung des Rechts auf freie Lebensgestaltung (Vermieterinteresse) und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Mieterinteresse) ist letzterem immer der Vorzug einzuräumen (LG Hamburg v. 13.12.1988 – 16 S 81/88 -; LG Oldenburg (v. 7.2.1991 – 16 S 1020/90 -; a.A. LG Frankfurt v. 23.8.2011 – 2-11 S 110/11 -: Entwicklung der kleinen Kinder des Vermieters in der größeren Wohnung wiegt schwerer als die Gebrechlichkeit des alten Mieters). Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung kann vom Mieter nicht verlangt werden, sich zur Herbeiführung seiner Räumungsfähigkeit in stationäre Behandlung – womöglich auf einer geschlossenen Station für einen nicht absehbaren Zeitraum – zu begeben (LG München I v. 23.7.2014 – 14 S 20700/13 -).
Stehen sich die beiden Interessen gleichwertig gegenüber, hat hingegen das Räumungsinteresse des Vermieters Vorrang (LG Hannover v. 5.9.1991 – 16 S 180/91 -; LG Berlin v. 13.8.1990 – 61 S 339/89 -; BGH v. 20.10.2004 – VIII ZR 246/03: Zur Abwägung der Belange, wenn der krebserkrankte Vermieter zur Aufnahme von Pflegepersonen wegen Eigenbedarfs kündigt und der ebenfalls an Krebs erkrankte Mieter sich auf seine Krankheit als Härte i.S.d. §§ 574 ff. BGB beruft). Ohne nahere Begründung darf das Gericht der Lebensplanung des Mieters nicht Vorrang vor der Lebensplanung des Vermieters einräumen (BVerfG v. 4.8.1993 – 1 BvR 541/93 -).
Bei dieser Interessenabwägung ist aber z.B. auch zu berücksichtigen, dass der Vermieter in Kenntnis der näheren Umstände und des Alters des Mieters eine vermietete Wohnung gekauft hat anstelle einer leerstehenden Eigentumswohnung. Hier muss der Vermieter schon beim Erwerb der Wohnung mit besonderen Härtegründen der Mieter rechnen (LG Zwickau v. 12.12.1997 – 6 S 152/97 -; LG München I v. 13.1.1993 – 14 S 8150/92 -; LG Bonn v. 1.2.1990 – 6 S 203/89 -). Außerdem darf der Vermieter im Hinblick auf die Interessenabwägung seine Situation nicht mutwillig verschlechtern, z.B. seine Mietwohnung selber kündigen und dann behaupten, sein Eigenbedarf wäre besonders dringend (LG Freiburg v. 1.3.1990 – 3 S 366/89 -).
Bei der Interessenabwägung sind auch besondere Schwierigkeiten des Mieters bei der Suche nach Ersatzwohnraum zu berücksichtigen, zum Beispiel, weil er aufgrund einer Behinderung auf eine Erdgeschosswohnung angewiesen ist.
Gleichwohl zeigt der Blick auf die Rechtsprechung, dass die Abwägung häufig zu Ungunsten der Mieter ausgeht.
Beispiele aus der Rechtsprechung für eine Abwägung zulasten des Mieters:
- Existenziellen Belangen einer vierköpfigen Familie mit 2 kleinen Kindern kann Vorrang vor den Interessen eines erheblich erkrankten Mieters eingeräumt werden (BVerfG v. 12.2.1993 – 2 BvR 2077/92 -).
- Auch ein herzkranker Mieter, der aufgrund seines Alters von 83 Jahren sozial schutzwürdig ist, trägt ein „Restrisiko“, da er sich darüber im Klaren sein muss, dass seine Stellung als Mieter nicht die gleiche ist wie die als Eigentümer und eine Kündigung – unter Einhaltung der Kündigungsfristen – auch ihn ereilen kann (AG Andernach v. 23.8.2007 – 6 C 387/07 -).
- Im Rahmen der Abwägung gemäß § 574 a BGB setzt sich der Eigennutzungswunsch einer 81-jährigen Vermieterin mit gesundheitlichen Einschränkungen gegenüber dem Mieterinteresse trotz 32-jähriger Wohndauer und erheblichen Schwierigkeiten der Ersatzwohnraumbeschaffung letztlich durch. Den Interessen der Mieterin ist in einem solchen Fall durch Gewährung einer Räumungsfrist Rechnung zu tragen (AG Hamburg v. 5.10.2007 – 46 C 24/07 -).
- Dem Mieter ist ein Umzug in einen anderen Stadtteil mit 69 Jahren zumutbar (AG Hamburg v. 4.8.2009 – 49 C 100/08 -).
- Eine Fortsetzung des Mietverhältnisses und eine Räumungsfrist kommen nur ausnahmsweise in Betracht (AG Tiergarten v. 13.1.2011 – 8 C 66/10 -).
- Hohes Alter der Mieter und die über 40-jährige Dauer eines Mietverhältnisses stehen einer Eigenbedarfskündigung nicht immer über die Härteklausel des § 574 BGB entgegen (AG Wiesbaden v. 4.7.2011 – 93 C 4774/10 -).
- Da es immer auf die Umstände des Einzelfalls ankommt, kann nach Anwendung der vorstehenden Kriterien auch ein Rentnerehepaar verpflichtet sein zu räumen, wenn ihm das zumutbar ist (LG Frankfurt v. 23.8.2011 – 2-11 S 110/11 -; LG Bremen v. 22.5.2003 – 2 S 315/02 -).
- Selbst bei Räumungsunfähigkeit der Mieter muss deren Bestandsinteresse im Rahmen der bei §§ 574, 574 a BGB durchzuführenden Interessenabwägung gegenüber dem Verwertungsinteresse des Vermieters nicht zwingend überwiegen. In einem solchen Fall des fehlenden Überwiegens des Bestandsinteresses können auch räumungsunfähige Mieter vom Vermieter keine Fortsetzung des Mietverhältnisses gemäß §§ 574, 574 a BGB verlangen (LG München I v. 17.8.2012 – 14 S 6026/12 -).
5. Beweislast für das Vorliegen von Härtegründen
Der Mieter hat die Härte(n) substantiiert darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen (VerfGH Berlin v. 18.6.2014 – VerfGH 153/13 -; AG Bremen v. 27.7.2012 – 16 C 0431/09 -). Vom Mieter behauptete und dem Vermieter bestrittene gesundheitliche Härtegründe erfordern im Falle ihrer Erheblichkeit grundsätzlich die Einholung eines Sachverständigengutachtens (LG Berlin v. 7.5.2015 – 67 S 117/14 -).
6. Form und Frist des Widerspruchs
- Der Widerspruch muss schriftlich erklärt werden (E-Mail oder Fax reichen nicht).
- Das Widerspruchsschreiben muss dem Vermieter grundsätzlich spätestens zwei Monate vor Ablauf der Kündigungsfrist zugegangen sein, wenn der Vermieter auf das Widerspruchsrecht hingewiesen hat.
- Der rechtzeitige Zugang des Widerspruchsschreibens beim Vermieter muss vom Mieter im Streitfall bewiesen werden können.
Eine vom Vermieter vor Ablauf der Widerspruchsfrist (§ 574 b Abs. 2 BGB) erhobene Räumungsklage hat keine Aussicht auf Erfolg (LG Heidelberg v. 25.9.1981 – 5 S 32/81 -; LG Stade v. 14.8.1968 – 2 S 105/68 -; LG Berlin v. 18.10.1979 – 61 S 180/79 -). Eine Klage auf zukünftige Räumung von Wohnraum ist nur zulässig, wenn zu befürchten ist, dass der Mieter seiner Räumungsverpflichtung nicht nachkommt. Diese Besorgnis ergibt sich nicht daraus, dass der Mieter auf die Kündigung schweigt, auch wenn er zur Äußerung ausdrücklich aufgefordert wird (LG Berlin v. 29.2.1980 – 65 S 332/79 -; AG Ulm v. 7.8.2006 – 3 C 329/06 -). Weder die (erfolglose) Bitte des Mieters beim vorherigen Vermieter um die Bestätigung, dass ein Mietverhältnis auf Lebenszeit geschlossen worden sei, noch seine Weigerung, vor Ablauf der gesetzlichen Widerspruchsfrist zu erklären, ob er die Kündigung akzeptiere, begründet die Besorgnis der nicht rechtzeitigen Leistung (AG Hersbruck v. 23.8.2012 – 3 C 461/12 -). Eine Räumungsklage ist unter den Voraussetzungen des § 259 ZPO nur dann vor Ablauf der Widerspruchsfrist statthaft, wenn der Mieter den Kündigungsgrund ernsthaft bestreitet und der Kündigung widerspricht, so dass zu befürchten ist, dass er die Mietsache nicht rechtzeitig räumen wird (AG Pforzheim v. 29.9.2016 – 3 C 129/16 -).
Allerdings ist die Feststellungsklage des Vermieters, dass das Mietverhältnis beendet sei, auch schon vor Ablauf der Kündigungswiderspruchsfrist zulässig (LG Berlin v. 9.9.2003 – 65 S 185/02).
7. Gegenseitige Aufklärungspflichten
Der Vermieter soll den Mieter rechtzeitig auf die Möglichkeit des Widerspruchs, dessen Form und Frist hinweisen (§ 568 Abs. 2 BGB). „Rechtzeitig“ bedeutet: Der Hinweis auf die Möglichkeit des Widerspruchs kann bereits im Kündigungsschreiben enthalten sein, muss es aber nicht; er muss jedoch rechtzeitig vor Ablauf der Widerspruchsfrist erfolgen. Unterbleibt ein solcher Hinweis, so bleibt die Kündigung zwar wirksam; der Mieter kann dann jedoch seinen Widerspruch noch im ersten Termin des Räumungsrechtsstreites erklären (§ 574 b Abs. 2 Satz 2 BGB). Hat der Mieter der Kündigung nicht fristgemäß widersprochen, obwohl das Kündigungsschreiben einen entsprechenden Hinweis enthielt, kann er sich später im Prozess nicht mehr auf die Sozialklausel berufen.
Andererseits soll der Mieter unverzüglich über die Gründe seines Widerspruches Auskunft geben, wenn der Vermieter es verlangt. „Unverzüglich“ bedeutet: ohne schuldhaftes Zögern.
8. Befristete oder unbefristete Verlängerung
Hat der Mieter mit seinem Widerspruch vor Gericht Erfolg, geht also die Interessenabwägung zugunsten des Mieters aus, kann das Gericht anordnen, dass das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortgesetzt wird (LG Freiburg v. 30.9.1991 – 3 S 88/91 -), z.B. wenn eine alte Mieterin (74), die seit mehr als 30 Jahren in der Wohnung wohnt, ihren Lebensmittelpunkt verlieren wurde, falls der Eigenbedarf einer jungen Familie realisiert wurde (LG Hamburg v. 18.5.1995 – 333 S 156/94 -). Gerade ältere Mieter, bei denen mehrere Härtegründe zusammenfallen wie lange Wohndauer, Alter, Gesundheitszustand usw., haben Chancen auf eine unbefristete Verlängerung des Mietverhältnisses (LG Essen v. 23.3.1999 – 15 S 448/98 -; LG Wuppertal v. 30.8.1995 – 8 S 70/95 -; AG Hamburg v. 24.11.1993 – 37a C 1251/93 -; AG Bergheim v. 27.5.1994 – 27 C 134/94 -).
Ist der Wegfall der auf Seiten des gekündigten Mieters bestehenden Härtegründe ungewiss, muss das Gericht von Amts wegen durch Gestaltungsurteil aussprechen, dass das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortbesteht (BVerfG v. 9.10.2014 – 1 BvR 2335/14 -).
Das Gericht kann aber auch das Mietverhältnis nur für einen bestimmten Zeitabschnitt verlängern. Dies wird das Gericht im Regelfall dann tun, wenn voraussehbar ist, wann der Härtegrund, auf den der Mieter sich berufen hat, wegfallen wird (z.B. Schwangerschaft, Examen usw.). Eine Verlängerung nur für einen bestimmten Zeitabschnitt kommt z.B. in Betracht, wenn sich der Mieter bereits für einen Platz im Altenheim angemeldet hat und ein doppelter Umzug vermieden werden soll.
9. Anpassung der Vertragsbedingungen
Ist dem Vermieter nicht zuzumuten, das Mietverhältnis zu den bisherigen Vertragsbedingungen fortzusetzen, so kann der Mieter nur verlangen, dass es unter einer angemessenen Änderung der Bedingungen fortgesetzt wird (§ 574 a Abs. 1 Satz 2 BGB). Liegt die Miete bereits über dem im Mietspiegel angegebenen Maximalwert, kommt allerdings eine Anpassung nicht in Frage (Mitte v. 7.6.2016 – 116 C 190/15 -).
10. Mehrmaliger Widerspruch
Auch nach Beendigung des verlängerten Mietverhältnisses muss der Mieter noch nicht zwingend ausziehen. Er kann von seinem Widerspruchsrecht nochmals – ggfs. mehrmals – Gebrauch machen (§ 574 c BGB). Der erneute Widerspruch kann aber nur mit einer Änderung der Umstände begründet werden. Er muss also auf einen neuen Härtegrund gestützt werden. Gewährt das Gericht eine befristete oder unbefristete Verlängerung, wird das Mietverhältnis fortgesetzt und die Räumungsklage abgewiesen.
Der Vermieter muss gegebenenfalls nach Ablauf einer befristeten Verlängerung erneut Räumungsklage erheben. Diese Verlängerungsmöglichkeit nach der Sozialklausel muss im Räumungsprozess vorrangig vor der Möglichkeit geprüft werden, dem Mieter eine Räumungsfrist (siehe Info Nr. 121) zu gewähren (OLG Oldenburg v. 23.06.1970 – 5 UH 1/70 -; OLG Stuttgart v. 11.11.1968 – 8 W 71/68 -).
11.04.2023