Leitsätze:
1. Entgegen der Auffassung des AG Schöneberg (MM 04, 267) begründen allein das Alter der Mieterin von 82 Jahren und die Tatsache, dass sie seit über 50 Jahren in der Wohnung lebt, keine nicht zu rechtfertigende Härte im Sinne von § 574 BGB. Menschen in einem Alter von über 80 Jahren sind nicht in jedem Fall mangels jeglicher Anpassungsfähigkeit zu einem Umzug nicht mehr in der Lage. Es sind vielmehr jeweils konkrete Feststellungen im Einzelfall erforderlich, inwiefern ein Mieter über die mit einem Wechsel der Wohnung regelmäßig verbundenen Begleiterscheinungen hinaus besonderen Belastungen ausgesetzt ist, die ihm einen Umzug unmöglich machen.
2. Für Kündigungen nach dem 1. September 2000 sind die Einschränkungen nach dem Sozialklauselgesetz nicht mehr maßgeblich (wie LG Berlin [ZK 65] GE 02, 1431, [ZK 62] GE 04, 235 und LG Berlin vom 13.2. 2004 – 64 S 407/03 -).
LG Berlin, Urteil vom 27.7.04 – 63 S 160/04 –
Mitgeteilt von RA Alexander Ziemann
Urteilstext
Aus den Gründen:
… Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.
Die Beklagte zu 1. ist gemäß § 546 Abs. BGB und die Beklagten zu 2. und 3. sind gemäß § 546 Abs. 2 BGB zur Räumung und Herausgabe der von ihnen innegehaltenen Wohnung an den Kläger verpflichtet. Denn das Mietverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1. ist beendet. Die Kündigung des Klägers vom 24.2.2003 ist gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB begründet.
Die Voraussetzungen für einen Eigenbedarf im Sinne von § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB liegen vor. Der Wunsch des Klägers, die streitgegenständlichen Wohnung seinen beiden Töchtern nebst deren Lebensgefährten sowie einem inzwischen geborenen Enkelkind zu überlassen, ist nachvollziehbar und grundsätzlich zu respektieren (BVerfG NJW 1989, 970; NJW 1993, 1637). Dass sich die Lebensverhältnisse der Tochter J. geändert haben und sie seit Juli 2003 nunmehr mit einem anderen Lebensgefährten verbunden ist und beide ein gemeinsames Kind haben, ist als nachträglich entstandener Grund gemäß § 573 Abs. 3 Satz 2 BGB zu berücksichtigen. Es kommt für den geltend gemachten Eigenbedarf nicht darauf an, ob die derzeitige Unterbringung der Bedarfspersonen die Überlassung der Wohnung der Beklagten zu 1. notwendig macht. Greifbare Anhaltspunkte für eine rechtsmissbräuchliche Geltendmachung von Eigenbedarf sind nicht erkennbar. Eine Nutzung einer Wohnfläche von 190 Quadratmetern durch vier bzw. nunmehr fünf Personen ist sicher sehr komfortabel, angesichts der sehr großzügigen Wohnverhältnisse des Klägers und seiner im Haus getrennt lebenden Ehefrau aber nicht als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Vielmehr ist auch der Wunsch des Klägers, seinen Kindern gleichwertige Wohnverhältnisse in seiner Nähe zu ermöglichen, zu akzeptieren. Hinzu kommt, dass sich der Grundriss der Wohnung mit insgesamt sieben Wohnräumen, zwei WCs und Anschluss an getrennte Treppenaufgänge gut zur Nutzung durch zwei Familien eignet und auch unter diesem Gesichtspunkt der Wunsch des Klägers nachvollziehbar erscheint.
Eine Verletzung der Anbietpflicht und einen daraus resultierenden Rechtsmissbrauch (vgl. BGH GE 2003, 1078 = WM 2003, 464 und GE 2003, 1206 = WM 2003, 463) haben die Beklagten nicht dargetan. Der pauschale Hinweis auf weitere dem Kläger gehörende Wohnungen im Haus genügt hierzu nicht. Es ist weder ersichtlich, dass überhaupt weitere Wohnungen im Haus tatsächlich frei geworden sind, noch dass diese mit der Wohnung der Beklagten vergleichbar waren. Die durch den geplanten Umzug frei werdende Wohnung der Tochter J. war nicht anzubieten. Zum einen gehört sie dem Kläger nicht, sondern der Tochter J. Vor allem aber ist sie als Ein-Zimmer-Wohnung mit der von den Beklagten innegehaltenen Wohnung nicht ansatzweise vergleichbar, zumal die Beklagten im Rahmen der eingewandten Härtegründe insbesondere auch auf den Raumbedarf für ihre großen Möbel aus der Gründerzeit und den 30er Jahren hingewiesen haben.
Die Kündigung ist nicht auf Grund des nach Art. 229 § 3 Nr. 6 Satz 1 Nr. 2 EGBGB weitergeltenden Gesetzes über eine Sozialklausel in Gebieten mit gefährdeter Wohnungsversorgung vom 22.4.1993 (BGBl. I S. 487) – Sozialklauselgesetz – ausgeschlossen. Dabei hat das Land Berlin von der in diesem Gesetz eingeräumten Ermächtigung Gebrauch gemacht und in § 1 der Verordnung vom 11.5.1993 (GVBl. 1993, S. 216) Berlin zu einem Gebiet bestimmt, in dem die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen besonders gefährdet ist. Der mangelnde Ablauf dieser Fristen ist jedoch nicht entscheidend. Denn die genannte Berliner Verordnung ist seit dem 1.9.2000 als verfassungswidrig außer Kraft getreten, weil die Voraussetzungen für ihren Erlass, nämlich eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung in Berlin mit Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen, offensichtlich erkennbar nicht mehr vorliegen. Das OVG Berlin hat in der Entscheidung vom 13.6.2002 (OVG 5 B 22.01, GE 2002, 1128), bestätigt vom BVerwG (Beschluss vom 13.3.2003 – BVerwG 5 B 254.02 -, GE 2003, 467), die entsprechende Feststellung zu der Zweiten Zweckentfremdungsverbotsverordnung getroffen. Die vom OVG Berlin angestellten Erwägungen, dass auf dem Berliner Wohnungsmarkt insgesamt eine dauerhafte Entspannung eingetreten ist und auch unter Berücksichtigung der zukünftigen Entwicklung eine Gefährdung der Versorgung mit angemessenem Wohnraum nicht zu erwarten steht, sind überzeugend. Sie gelten gleichermaßen für die Verordnung des Landes Berlin auf Grund des.Sozialklauselgesetzes. Entgegen der Auffassung der Beklagten schaffen beide Verordnungen keinen unterschiedlichen Vertrauenstatbestand. Beide Verordnungen schränken die Freiheit des Vermieters bei der Gestaltung von Mietverhältnissen über Wohnräume ein. Soweit sich daraus ein Vertrauen der Mieter ergibt, steht dieses auf Grund Ermächtigung der Verordnungen unter dem Vorbehalt, dass die Voraussetzungen für den Erlass der Verordnungen weiterhin vorliegen. Wenn das – wie hier – nicht der Fall ist, besteht auch kein Vertrauen von Mietern auf den Weiterbestand einer nicht mehr von der Ermächtigung gedeckten Verordnung.
Für Kündigungen nach dem 1.9.2000 sind damit die Einschränkungen nach dem Sozialklauselgesetz nicht mehr maßgeblich (vgl. hierzu auch LG Berlin [ZK 65] GE 2002, 1431; Schach, GE 2002, 1234 und 1379).
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts begründen allein das Alter der Beklagten zu 1. von 82 Jahren und die Tatsache, dass sie seit über 50 Jahren in der Wohnung lebt, keine nicht zu rechtfertigende Härte im Sinne von § 574 BGB. Die Kammer teilt auch nicht die Ansicht der Beklagten, dass Menschen in einem Alter von über 80 Jahren schlechterdings mangels jeglicher Anpassungsfähigkeit zu einem Umzug nicht mehr in der Lage sind. Sie verkennt dabei nicht, dass die vorgenannten Umstände grundsätzlich ein starkes Interesse eines Mieters an einem weiteren Verbleib in einer Wohnung begründen. Gleichwohl sind jeweils konkrete Feststellungen im Einzelfall erforderlich, inwiefern ein Mieter über die mit einem Wechsel der Wohnung regelmäßig verbundenen Begleiterscheinungen hinaus besonderen Belastungen ausgesetzt ist, die ihm einen Umzug unmöglich machen.
Die von den Beklagten über das Alter der Beklagten zu 1. hinaus vorgebrachten gesundheitlichen Gründe waren in I. Instanz nicht hinreichend substantiiert. Es kann dahinstehen, ob das jetzige Vorbringen in der Berufungsinstanz und die hierbei vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nach § 531 Abs. 2 ZPO präkludiert sind. Denn auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens sind Härtegründe im Sinne von § 574 BGB nicht ersichtlich. Aus den von ihr vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen ergeben sich außer den Diagnosen verschiedener Krankheitsbilder keine weiteren Umstände, die Anlass für die Annahme geben, dass die Beklagte zu 1. eine Wohnung nicht mehr wechseln könne. Zum einen ist eine gewisse Widersprüchlichkeit des Attestes ihres Hausarztes vom 2.3.2004 und des Entlassungsberichts des Franziskus-Krankenhauses vom 13.1.2004 nicht zu verkennen.
Während ihr Hausarzt der Beklagten zu 1. eine allgemeine körperliche Schwäche attestierte, ist in dem Entlassungsbericht ein guter Allgemein- und Ernährungszustand angegeben. Hinzu kommt, dass die Behauptung der Beklagten zu 1., bei ihr sei ein fortgeschrittener Lungenkrebs festgestellt worden, aus dem von ihr eingereichten und insoweit in Bezug genommenen Entlassungsbericht vom 13.1.2004 sich gerade nicht ergibt. Es ist vielmehr benignes (= gutartiges !) Geschehen festgestellt worden. Inwieweit sich die diagnostizierten Krankheitsbilder auf die Lebensumstände der Beklagten zu 1. tatsächlich auswirken, haben die Beklagten nicht hinreichend substantiiert vorgetragen. Konkrete Anhaltspunkte ergeben sich insoweit auch nicht aus den ärztlichen Bescheinigungen. Die pauschalen Hinweise auf den allgemeinen Gesundheitszustand, eine allgemeine körperliche Schwäche und chronische Erkrankungen genügen hierzu nicht. Die Beklagten räumen vielmehr ein, dass die Beklagte zu 1. täglich das Haus verlässt, den Hund des Beklagten zu 3. ausführt, Besorgungen erledigt und auch regelmäßig Auto fährt. Es ist nach allem nicht ersichtlich, dass die gesundheitliche Verfassung der Beklagten zu 1. einen Wohnungswechsel nicht zulässt.
Der Umstand, dass die Beklagte zu 1. bereits seit nunmehr 52 Jahren in der Wohnung lebt, steht einem Umzug ebenfalls nicht entgegen. Abgesehen von der auf Grund der Mietzeit entstandenen Gewöhnung an die Gegend tragen die Beklagten keine weiteren Umstände vor, aus denen sich eine starke Verwurzelung der Beklagten zu 1. ergibt. Im Übrigen ist angesichts der derzeit entspannten Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt nicht erkennbar, dass die Beklagten in der bisherigen Umgebung keine anderweitige Ersatzwohnung anmieten könnten. Entgegenstehende Anhaltspunkte, wie etwa umfangreiche bisher vergebliche Bemühungen, tragen die Beklagten nicht konkret vor. Dass eine von den Klägern beispielhaft nachgewiesene freie Wohnung nicht den Vorstellungen der Beklagten entsprochen hat, genügt insoweit nicht. Wirtschaftliche Gründe, die der Anmietung einer möglicherweise teureren Ersatzwohnung entgegenstehen, sind ebenfalls nicht dargetan.
Den Beklagten war gemäß § 721 ZPO eine angemessene Räumungsfrist bis zum 28.2.2005 zu gewähren. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Beklagten zu 1. auf Grund der oben dargestellten Umstände ein Umzug zwar zumutbar ist, sie aber dafür eine längere Vorbereitungszeit benötigt, um sich hierauf einzustellen sowie – gegebenenfalls mit Hilfe der weiteren Beklagten oder Dritter – eine angemessene Ersatzwohnung zu finden und den Umzug schließlich zu organisieren. Ein besonders dringendes Interesse des Klägers an einer sofortigen Räumung liegt hingegen nicht vor. Auch wenn inzwischen das Kind der Tochter J. geboren worden ist, sind die Bedarfspersonen derzeit vor allem im Vergleich zu den künftig beabsichtigten Wohnverhältnissen zwar beengter, aber nicht völlig unzureichend untergebracht. …
23.12.2017