Zugegeben – revolutionär sieht die schmale Stephanstraße im Berliner Ortsteil Moabit mit den pastellfarbenen hohen Bürgerhäusern nicht aus. Erst recht nicht die Loftwohnung in der 100-jährigen Remise der Nummer 60. Nur die historischen Fotos im Treppenhaus des backsteinernen Hinterhauses erinnern noch an die bewegten Zeiten, als die legendäre „Kommune 1“ im zweiten Stockwerk wohnte.
Durchquert man das Vorderhaus der Stephanstraße 60, erreicht man einen gepflegten, hellen Hinterhof mit ein paar Bäumen, Sträuchern und einer mit Grünzeug bewachsenen alten Mauer. An der gegenüberliegenden Seite steht ein dreistöckiges ehemaliges Fabrikgebäude. Es hat breite, bis zum Boden reichende Fenster.
Im Erdgeschoss wohnt eine SOS-Kinderdorf-Familie. Darüber befindet sich eine Ferienwohnung im Loft-Stil. Ganz oben haben Stephan und Babette la Barré, die heutigen Eigentümer der Remise, ihr Domizil bezogen.
Kaum vorstellbar, dass genau dort im zweiten Stockwerk einst die Mitglieder der berühmten „Kommune 1“ (K 1) der bewegten 1968er Jahre lebten und viele ihrer spektakulären Aktionen planten.
„Noch immer kommen viele Neugierige hierher, um zu sehen, wo die Kommunarden einst wohnten“, berichtet Stephan la Barré. Auch der Schriftsteller Ulrich Enzensberger, das jüngste Gründungsmitglied der K 1, schaut noch manchmal hier vorbei.
Ein Ex-Kommunarde schaut immer noch vorbei
Öfters Besuch bekam auch die im Sommer 1967 hier eingezogene K 1 – wenn auch sicher in einem ganz anderen Ausmaß als Stephan la Barré. Meist waren es junge Menschen, die sich in ihren Ansichten mit den Kommunarden verbunden fühlten. Für diese Besucher und die zahlreichen Mitglieder der K 1 selbst bot das Obergeschoss der Fabrik mit über 100 Quadratmetern ausreichend Platz. Viel Licht floss durch die großen Fenster in den einzigen weiten Raum, der zum Aufenthalt, als Schlafsaal und Küche gleichzeitig diente. Die Mitglieder der K 1, darunter Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel, Ulrich Enzensberger, Dagrun Enzensberger, Rainer Langhans und Uschi Obermeier, hatten für die erste politisch motivierte Wohngemeinschaft in Deutschland den richtigen Ort gefunden.
Die K 1 verstand sich als Reaktion auf eine Gesellschaft, die die Kommunarden als konservativ und spießig empfanden. So vertrat zum Beispiel der Kommune-Arbeitskreis des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der der K 1 vorausgegangen war, die These, dass Mann und Frau in der bürgerlichen Kleinfamilie in Abhängigkeit voneinander lebten und sich so keiner von beiden frei entwickeln könne. Die Gemeinschaft, in der Männer, Frauen und Kinder gleichberechtigt zusammen wohnten wie in der Stephanstraße 60, sollte das Gegenmodell darstellen.
Berühmt wurde die K1 insbesondere durch ihre ständigen, teilweise grotesken Aktionen, mit der sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zog und immer wieder Schlagzeilen in der Presse verursachte. Auch die Nachbarn, beispielsweise aus dem Vorderhaus der Stephanstraße 60, beobachteten die neuen Mitbewohner im Hinterhaus argwöhnisch. Allein das Aussehen – Männer wie Frauen trugen lange Haare, Ketten und weite Mäntel – war für sie befremdlich.
Das Fabrikgebäude auf dem Hinterhof war 1905 von der „Baugesellschaft am Kleinen Tiergarten“ erbaut worden. Überliefert ist, dass ein Unternehmer namens Ambrosius darin eine Filzfabrik betrieben haben soll. Nach deren Schließung dienten die Hallen als Tischlerei und Glaserei. Sehr viel später, nachdem sich die K 1 im November 1969 aufgelöst hatte, zogen unterschiedliche Institutionen hier ein: Eine Organisation für Betreutes Wohnen Drogenabhängiger, die linke Vereinigung „Rote Hilfe“ und die etwas unbekanntere Horla-Kommune.
Mit Engagement für den Kiez
1997 nahm, zunächst als Mieter, Stephan la Barré das zweite Stockwerk in Beschlag. Der Physiker nutzte den Raum zunächst für Experimente zur Entwicklung von Laser-Messgeräten, bevor er und seine Frau die gesamte Remise kauften, um diese um- und auszubauen. „Es war nicht nur das Ambiente des großzügigen Lofts und die Geschichte der Kommune 1, die uns dazu bewogen, uns hier niederzulassen“, begründet la Barré diese Entscheidung. „Auch die Umgebung gefiel uns gut. Der Stephankiez ist genau das, was wir gesucht hatten: ein im Krieg kaum zerstörtes Gründerzeitviertel, dessen historische Bausubstanz größtenteils erhalten geblieben ist“, erklärt Barré, der auch Vorsitzender von „BürSte“ ist, dem Bürgerverein für den Stephankiez im Bezirk Mitte.
Doch bis das Hinterhaus im heutigen Zustand erstrahlte, musste ordentlich Hand angelegt werden. „Als wir hierher kamen, war nichts saniert – keine Fassade gedämmt, kein Doppelfenster eingebaut und der Zustand des Dachbodens entsprach dem der Gründerzeit“, erinnert er sich. Schrittweise modernisierten sie den Komplex. Und aus dem zweiten Stockwerk, das einst die Kommune 1 bewohnte, entstand nun eine moderne helle Loft-Wohnung mit ausgebautem Dachboden und einer Terrasse mit einem weiten Blick über Berlin.
Bettina Karl
Wohnort und Anlaufstelle für Protestideen
Bereits vor über 100 Jahren suchten Menschen nach neuen Formen des Zusammenlebens, um starre gesellschaftliche Normen und Prozesse zu reformieren.
Erinnert sei an den Künstler, Pädagogen und Sozialisten Heinrich Vogeler, der 1919 die Kommune Barkenhoff im niedersächsischen Worpswede gründete. Bekannt wurde auch Monte Verità, der Sitz einer lebensreformerischen Künstlerkolonie bei Ascona in der Schweiz, die ebenfalls Anfang des vergangenen Jahrhunderts entstand und als eine der Wiegen der Alternativbewegung gilt.
Aus der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der Studentenbewegung und dem SDS entstand rund 50 Jahre später, Anfang des Jahres 1967, im West-Berliner Ortsteil Friedenau, die legendäre Kommune 1 (K 1). Nach zwischenzeitlich anderen Wohnstätten fanden die Kommunarden ihren endgültigen Wohnsitz im Hinterhaus der Stephanstraße 60.
Die zunächst politisch motivierte Kommune 1 machte in der Öffentlichkeit mit vielen Aktionen auf sich aufmerksam. So stieg die Kommune beispielsweise auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, um von dort oben hunderte Mao-Bibeln hinabzuwerfen. Fritz Teufel wurde während der Demonstration gegen den Staatsbesuch von Schah Reza Pahlewi am 2. Juni 1967 verhaftet, des Landfriedensbruchs angeklagt und erst im Dezember nach einem Hungerstreik wieder freigelassen. Die K 1 entwickelte sich für Andersdenkende zu einer Art zentraler Anlaufstelle. Oft soll das Haus regelrecht belagert worden sein.
Später standen in der Kommune Sex, Musik und Drogen im Vordergrund. Rainer Langhans und Fotomodell Uschi Obermaier sprachen zum Beispiel in den Medien offen über ihre Liebesbeziehung. Das war der nächste große Tabu-Bruch in der Gesellschaft. Auch Jimi Hendrix, der berühmte Gitarrist, soll die Kommune 1 für einige Tage besucht haben.
Irgendwann hatte sich jedoch die Energie der Kommunarden verbraucht und die Kommune 1 löste sich im November 1969 auf.
bk
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… und im Jahr 1968
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24.12.2018