Die Hohenstaufenstraße in Schöneberg ist eine belebte Verkehrsader Berlins – und passt damit auch zu dem Image ihres einstigen, rastlosen Bewohners Egon Erwin Kisch, auch wenn es in den 20er Jahren, als der Journalist in Nummer 36 residierte, möglicherweise etwas ruhiger zuging als heute. In einer Wohnung im zweiten Stock soll Kisch viele seiner berühmten Arbeiten geschrieben haben.
Das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erbaute Haus in der Hohenstaufenstraße 36 ist ein schmucker Altbau mit Vorderhaus und Seitenflügel, in dem 27 Mietparteien leben. Carl und Hanna-Christa Schulz haben das Gebäude im Juli 1958 gekauft. Seitdem befindet es sich im Familienbesitz und gehört heute der Tochter Monika Stratmann. Carl und Hanna-Christa Schulz hatten das Haus seinerzeit umfangreich restaurieren lassen. Die Fassade war im Krieg zerschossen worden und einige Brandbomben hatten im vierten Stock das Parkett zerstört. Das Dach und die meisten Wohnungen waren jedoch unversehrt geblieben.
Der Reporter Egon Erwin Kisch soll von 1924 bis 1933 in einer der Wohnungen im zweiten Stockwerk gewohnt haben. Für den Journalisten war Berlin als pulsierende Metropole und bedeutendes Pressezentrum ein idealer Standort. Von hier aus brach er zu zahlreichen Reisen in Europa und der ganzen Welt auf, um Stoff für seine Reportagen zu sammeln. Von seinen vielen Expeditionen sind vor allem seine mehrmaligen Besuche in der Sowjetunion, in Algerien und Tunesien (1927), sein längerer Aufenthalt um die Jahreswende 1928/ 1929 in den USA und nicht zuletzt in China 1932 in seine Arbeiten eingeflossen.
Nahe an den Menschen, nahe am Geschehen
Egon Erwin Kisch ging als „der rasende Reporter“ – so der Titel eines 1924 in Berlin erschienenen Reportagebandes – in die Zeitungsgeschichte ein. Sein wagemutiger Drang, immer ganz nah am Geschehen zu sein, und sein Bestreben, die großen Fragen der Welt am Beispiel „einfacher“ Menschen zu behandeln, gelten noch heute als vorbildlich. Kisch wollte nicht nur aufdecken und informieren, sondern zugleich unterhalten. Seine legendären Reportagen übertreten daher oft die Grenzen zur Erzählung.
Die Wohnungen im Vorderhaus der Hohenstaufenstraße 36, wo auch Egon Erwin Kisch gelebt hatte, wurden in den 60er Jahren umgebaut. Zu der Zeit bezog auch Monika Stratmann als junge Erwachsene dort ein kleines Appartement. „Das war meine erste eigene Wohnung“, sagt sie. In den 80er Jahren ließ Stratmann im Dachgeschoss drei weitere Wohnungen ausbauen. Anlass war der Wohnungsbedarf, der in West-Berlin in den 80er Jahren durch massiven Zuzug, auch von vielen Aussiedlern, entstanden war. „Manche Mieter in der Hohenstaufenstraße 36 haben schon ihr halbes Leben in dem Haus verbracht“, schildert die Eigentümerin und ergänzt: „Die Fluktuation im Haus ist gering – nur in den kleineren Wohnungen, die oft vom Studenten gemietet werden, gibt es einen häufigeren Wechsel.“
Wechselnde Briefadressen
Egon Erwin Kisch war in den 20er Jahren in der Hohenstaufenstraße 36 polizeilich gemeldet. Allerdings nur dort. Überlieferungen zufolge bewohnte der „Rasende Reporter“ zwischenzeitlich auch andere Orte in Berlin. In Briefen soll er wechselnde Adressen, beispielsweise den Viktoria-Luise-Platz 7 und die Güntzelstraße 3 in Wilmersdorf angegeben haben. Vermutlich waren das Wohnungen seiner Lebensgefährtin Gisela Lyner. In der Güntzelstraße 3 weist heute eine Gedenktafel darauf hin, dass dort „einige Jahre bis zum 30. Januar 1933 der Schriftsteller und Journalist Egon Erwin Kisch gewohnt“ hat.
Auch Hanna-Christa Schulz ließ in den 70er Jahren eine Gedenktafel am Haus anbringen: „Hier lebte in den Zwanziger Jahren der ,Rasende Reporter‘ Egon Erwin Kisch. Durch seine engagierten sozialkritischen Artikel und Schriften setzte er neue Akzente im Journalismus.“
Bettina Karl
Egon Erwin Kisch – immer unterwegs
Egon Kisch wurde am 29. April 1885 in Prag in der Familie eines jüdischen Tuchhändlers geboren. Den zweiten Vornamen Erwin legte er sich mit 14 Jahren zu, um trotz eines Verbots der Schulleitung ein Gedicht in einer Zeitung veröffentlichen zu können. Sein Buchdebüt war ein Gedichtbändchen, das 1905 erschien.
Ein technisches Studium brach Kisch nach einem Semester ab, stattdessen hörte er Vorlesungen über deutsche Literatur. Während dieser Zeit entstand eine Abhandlung über das Treiben in den studentischen Mensurlokalen („Aus Prager Gassen und Nächten“, 1912). Das zweite Buch mit Erzählungen erschien 1906 in Berlin. Hier hatte er nach dem freiwilligen Militärdienst für ein Semester eine Journalistenschule besucht, kehrte jedoch bald nach Prag zurück, um eine Redakteursausbildung beim „Prager Tagblatt“ zu beginnen. Kisch blieb dort sechs Wochen. Dann stellte ihn die renommierte „Bohemia“ als Lokalreporter ein. Seine hier in sieben Jahren veröffentlichten Berichte über tägliche Ereignisse machten ihn berühmt.
Im Sommer 1913 ging Kisch erneut in die deutsche Hauptstadt, um beim „Berliner Tageblatt“ zu arbeiten. Ein Jahr später wurde er nach Südböhmen in die k.u.k-Armee einberufen, nachdem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt hatte.
Aus seiner Soldatenzeit nahm er die Aufforderung seiner Kameraden mit, über die erlebten Schrecken zu berichten. Immer stärker wandte sich der Sensationsreporter drängenden sozialen und politischen Fragen zu. Nach dem Krieg arbeitete Kisch bei einer linken Wiener Zeitung und trat der Kommunistischen Partei bei. 1919 wurde er des Landes verwiesen und kehrte nach Prag zurück.
1921 siedelte der Journalist zum dritten Mal nach Berlin um, wo er bis zur Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 seinen Hauptwohnsitz haben sollte. Nach dem Reichstagsbrand wurde er verhaftet und nach Prag abgeschoben. Kisch ging nach Paris ins Exil, nahm am spanischen Bürgerkrieg teil, war mit Heinrich Mann im Widerstand aktiv und floh bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Mexiko.
Nur zwei Jahre nach seiner Rückkehr starb Egon Erwin Kisch am 31. März 1948 in einer Prager Klinik nach zwei Schlaganfällen.
bk
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MieterMagazin 7+8/10
Ein schmucker Altbau aus der Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war einst Heimstatt des Reporters Egon Erwin Kisch
Fotos: Sabine Münch
Die heutige Besitzerin Monika Stratmann neben einer Gedenktafel an Egon Erwin Kisch
Garten der Hohenstaufenstraße 36
08.03.2016