„Meine erste eigene Wohnung war im Osten Berlins im Keller, nun sitze ich im Berliner Westen, vier Treppen hoch, bin also schon gestiegen“, erklärte Heinrich Zille, als er 1892 in die Sophie-Charlotten-Straße 88 in Charlottenburg einzog. Heute lebt in der schönen Altbauwohnung eine junge Familie.
Die Sophie-Charlotten-Straße gehört heute zu einer gutbürgerlichen Gegend. Schick restaurierte Altbauten säumen ihre Ränder. Dazwischen sorgen lebhafte große und kleine Geschäfte für Abwechslung. In den gepflegten ruhigen Seitenstraßen findet man gemütliche Restaurants und einladende Kiezläden. Kaum noch etwas weist auf die einst so bewegte Geschichte in diesem Viertel vor über 100 Jahren hin. Oder doch?
Am Eckhaus Sophie-Charlotten-Straße 88 ist eine Gedenktafel angebracht. Sie verrät, dass hier einst ein bekannter Berliner Zeichner und Maler wohnte: Heinrich Zille. Fast 40 Jahre, von 1892 bis 1929, lebte und arbeitete er hier, in der Wohnung im vierten Stock mit Balkon.
Charlottenburg – ein Arbeiterviertel vor der Stadt
In dieser Gegend fand er all das, was man in seinen Zeichnungen und Bildern wiederfindet: Szenen aus der proletarischen Unterschicht und deren sozialem Umfeld. Denn zwischen 1880 und 1910 entstand hier in Charlottenburg im Zuge der Industrialisierung ein bevölkerungsreiches Arbeiterviertel. Die Einwohnerzahl der bis dahin beschaulichen Vorstadt – erst seit 1920 gehört Charlottenburg zu Berlin – wuchs innerhalb von 30 Jahren auf 300 000 an. An der Sophie-Charlotten-Straße, die bis 1885 „Schützenweg“ hieß, da sie zum Schützenhaus am Lietzensee führte, sowie im ganzen Kiez drum herum wurden Mietskasernen für die immer zahlreicher werdende Arbeiterschaft gebaut. „Der Grund war der naheliegende Güterbahnhof der Reichsbahn, die Engelhardt Brauerei und Siemens. Sie boten neben anderen großen und kleinen Gewerbebetrieben Arbeitsplätze“, erklärt Harald Marpe vom „Kiezbündnis Klausenerplatz“.
Heute lebt im vierten Stock des Hauses eine junge Familie, die erst vor einem dreiviertel Jahr eingezogen ist: „Die Wohnung besitzt ein ganz besonderes Flair und hat uns sofort gefallen: breite Fenster, drei große, helle Räume, hohe Decken, einen fast zehn Meter langen Flur und rund 110 Quadratmeter Fläche“, freut sich der junge Mann. Aus dem Küchenfenster blickt man in den kleinen Hinterhof. An einer Zimmerwand kann man beim näheren Hinschauen noch den Durchbruch zur Nachbarwohnung erkennen.
„Früher, also zu Zilles Zeiten, gab es in dem Haus nur große Wohnungen mit fünf oder sechs Zimmern“, erklärt Christiane Farmer, die schon seit fast 30 Jahren im ersten Stock wohnt und ergänzt: „Die Wohnungen gingen damals bis in die Seelingstraße rüber. Umgebaut und verkleinert wurden sie wahrscheinlich noch vor dem Krieg. Heute haben alle Wohnungen in diesem Haus nur drei Zimmer“.
Immerhin brauchte Zille damals mit seiner großen Familie Platz – und konnte sich diesen auch leisten. Er arbeitete als Angestellter der „Photographischen Gesellschaft“. Das war auch der Grund, warum er 1892 von der Geusenstraße 16 in Lichtenberg nach Charlottenburg zog: Sein Arbeitgeber hatte den Standort gewechselt. Gemeinsam mit seiner Frau Hulda und den Kindern Margarete, Hans und Walter zog Heinrich Zille hinterher.
Zilles Sohn Hans erinnerte sich später, dass man aus den Fenstern der Wohnung in der Sophie-Charlotten-Straße 88 noch einen unverbauten Blick hatte: „Auf der anderen Straßenseite war beackerter Sandboden, in der Mitte ein großer Platz zum Trocknen der Wäsche, um ihn herum Lauben.“
Zeichnerisches Zeugnis einer Epoche
Heinrich Zille beobachtete, wie die Mietskasernen in seiner Straße und im ganzen Viertel in den Himmel wuchsen und sich immer mehr Arbeiter mit ihren Familien ansiedelten. Von seiner Wohnung aus zog er in die Hinterhöfe und Kaschemmen, um Eindrücke und Vorlagen für seine Zeichnungen und Malereien zu sammeln. Dort fand Zille sein berühmtes „Milljöh“, 1907 wurde Heinrich Zille von der „Photographischen Gesellschaft“ entlassen. Ab da begann er als freier Künstler zu arbeiten. Die für ihn so typische Manier – mit berlinernden lustigen wie tragischen Zeichnungen Kurzgeschichten zu versehen – war originell und machten „Pinselheinrich“, wie er liebevoll von den Berlinern genannt wurde, berühmt. Mit seinen Werken wurde Zille zum wichtigsten Zeugen dieser Zeit.
Als Christiane Farmer 1983 in das „Zillehaus“ in der Sophie-Charlotten-Straße 88 zog, lebte ein Ehepaar mit Familiennamen Herker hier, das mittlerweile verstorben ist, erzählt sie. Das Paar war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg eingezogen und behauptete, dass Familie Zille den dritten Stock bewohnt habe. Aber sowohl das Kiezbündnis Klausenerplatz, das sich intensiv mit der Geschichte in diesem Viertel beschäftigt, als auch der Kurator und Mitbegründer des Zille-Museums und der Heinrich-Zille-Gesellschaft in Mitte, Jürgen Burgard, gehen nach ihren Recherchen davon aus, dass Zille im vierten Stock lebte. Allein das Zitat von Zille „… nun sitze ich vier Treppen hoch“ lässt darauf schließen.
Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass die Herkers immerhin Zilles Kinder noch persönlich gekannt haben. Harald Marpe: „Ein Sohn soll bis zu seinem Tod in den 1960er Jahren in diesem Haus gelebt haben. Ob er aber in der Elternwohnung lebte, ist nicht gewiss.“
Bettina Karl
Heinrich Zille wird 1858 in Radeburg bei Dresden geboren und wächst in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater, ein Uhrmacher und Feinschlosser, sitzt mehrmals in dem damals üblichen Schuldgefängnis. Letztlich muss die Familie 1867 sogar vor Schuldeneintreibern flüchten. Sie zieht nach Berlin. Aber auch dort verbessern sich ihre wirtschaftlichen Verhältnisse kaum: Johann und Ernestine Zille leben mit ihrem Sohn bis 1873 in einer Kellerwohnung nahe dem „Schlesischen Bahnhof“ (heute Ostbahnhof). Diese bitteren Erfahrungen schmälern jedoch nicht das frühe Interesse Zilles an Malerei und Zeichnungen. Insbesondere ist er von den Stichen des englischen sozialkritischen Zeichners William Hogarth beeindruckt. Bald nimmt er Zeichenunterricht, für den er selbst aufkommen muss. Nach der Schule 1872 beginnt Zille eine Lehre als Lithograph und besucht Abendkurse bei Theodor Hosemann an der Königlichen Kunstschule.
Aufgrund dieser Ausbildung bekommt er 1877 eine Stelle bei der Photographischen Gesellschaft in Berlin. Bald ist Heinrich Zille mit seinen Zeichnungen und Malereien berühmt. 1901 nimmt er an der Ausstellung der Berliner Künstlervereinigung „Secession“ teil. Seine Werke erscheinen in verschiedenen Zeitschriften, zum Beispiel im „Simplicissimus“, „Die lustigen Blätter“ oder „Die Jugend“. 1903 schließt er sich der Künstlergruppe „Berliner Secession“ an. Im Jahr 1908 kommt sein Bildband „Kinder der Straße“ heraus. Darin skizziert er hauptsächlich das Leben der kleinbürgerlichen Gesellschaft in der Großstadt. 1913 folgt ein weiterer Bildband „Mein Milljöh“ sowie die Arbeiten „Hurengespräche“ und „Berliner Luft“.
Auf Intervention des Malers Max Liebermann wird Heinrich Zille 1924 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. Im gleichen Jahr verleiht man ihm den Professorentitel. 1925 erscheint sein Zyklus „Komm, Karlineken, komm“. Dann wird es stiller um Heinrich Zille. In den letzten Jahren seines Lebens lebt er zurückgezogen, geplagt von Diabetes und Gicht. An seine Tür hängt er einen Zettel: „Bin krank – bitte keine Besuche“. Heinrich Zille stirbt am 9. August 1929 in seiner Wohnung in der Sophie-Charlotten-Straße 88. Er bekommt ein Ehrengrab auf dem Südwest-Friedhof in Stahnsdorf und wird 80. Ehrenbürger von Berlin.
bk
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