Die Stubenrauchstraße in Friedenau gehört zu den gutbürgerlichen Gegenden Berlins. Schmucke Altbauten mit Stuck verziert und Bleiglasfenstern in den Treppenhäusern, gepflegte Grünanlagen, hohe Bäume und reizvolle kleine Geschäfte findet man zwischen Südwestcorso und Bundesallee. Genau hier – im Dachgeschoss eines Mietshauses – trafen sich einst Künstler, die später einmal zu Weltruhm gelangen sollten.
Harry Frommermann, 21 Jahre alt, in Berlin geboren und ohne akademische Gesangsausbildung, gab am 18. Dezember 1927 folgende Anzeige im „Berliner Lokal-Anzeiger“ auf: „Achtung. Selten. Tenor, Bass (Berufssänger, nicht über 25), sehr musikalisch, schönklingende Stimmen, für einzig dastehendes Ensemble unter Angabe der täglich verfügbaren Zeit gesucht.“ Wahrscheinlich hatte der Inserent nicht mit über 70 Bewerbern gerechnet. Aber er bat sie alle der Reihe nach am 3. Januar 1928 zum Vorsingen in seine kleine Wohnung im Dachgeschoss in der Stubenrauchstraße 47.
Eigentlich war die Wohnung ein Kunstmaleratelier. Julius Seeger, damaliger Eigentümer des Mietshauses, hatte die Mansarde erst 1927 nachträglich ausbauen lassen. Die Wohnung war 45 Quadratmeter groß und bestand aus einem Atelierzimmer mit breiten, hohen Fenstern, einem kleinen Ankleideraum und einer Innentoilette.
Aus den Bauakten geht hervor, dass der Umbau nicht ohne Schwierigkeiten ablief. Die baupolizeiliche Genehmigung zur Einrichtung des Ateliers vom 4. Juni 1927 war an die Bedingung geknüpft, „einen feuerhemmenden Zugang zu zwei Treppen herzustellen“. Julius Seeger verweigerte zunächst den Umbau aus Kostengründen, gab aber nach Ablehnung seines Ausnahmeantrags nach und meldete am 1. April 1928 der städtischen Baupolizei die Fertigstellung der gewünschten Bauten.
Erste Proben unterm Dach
Harry Frommermann, der zu dieser Zeit – also vor der baupolizeilichen Genehmigung – bereits das Atelier bewohnt haben muss, war von den Bewerbern, die sich auf seine Anzeige gemeldet hatten, enttäuscht. Denn nur wenige hatten in seinen Augen wirklich Talent. Allein Robert Biberti konnte ihn überzeugen. Immerhin genügte das, um den Grundstein für die legendären „Comedian Harmonists“ zu legen, die sich noch im gleichen Jahr in der Mansarde der Stubenrauchstraße 47 gründeten. Biberti brachte noch zwei seiner Chorkollegen, Ari Leschnikoff und Roman Cycowski, aus dem Großen Schauspielhaus mit. Bald gesellten sich Walter Nussbaum, der im April 1929 durch Erich Collin ersetzt wurde, und der Piano spielende Erwin Bootz dazu. Das Sextett war jetzt komplett. Im Januar 1928 fanden die ersten Proben in der Atelierwohnung statt.
Das Haus in der Stubenrauchstraße 47, in dem die Karriere der noch immer gern gehörten Sänger begann, überstand den Zweiten Weltkrieg schadlos und steht noch heute unverändert. In dem 1910 erbauten vierstöckigen Gebäude mit Wirtschaftsboden und Keller gibt es neben dem Kunstmaleratelier acht Drei- und vier Zweizimmerwohnungen. Von Anfang an war das Haus mit einer zentralen Warmwasserversorgung ausgestattet.
„Das Bauwerk bildet eine Wirtschaftseinheit mit dem Haus am Südwestkorso 68“, beschreibt Marina Seeger-Holle, Enkelin von Julius Seeger und erklärt: „Die Bauherren, die beide Häuser als ein Projekt errichten ließen, nutzten die Fläche mit den auf halber Treppe liegenden Zweizimmerwohnungen optimal aus.“ Durch Modernisierungsmaßnahmen – alle Wohnungen haben inzwischen Gasetagenheizungen, die Fassade erhielt einen neuen Anstrich und der Eingangsbereich ist mit Stuck und großen Spiegeln verziert – blieb das Gebäude stets attraktiv und passt in das Bild der ruhigen, gepflegten Stubenrauchstraße im Bezirk Tempelhof-Schöneberg.
… und noch ein Prominenter
Marina Seeger-Holle wohnt seit 1980 in dem aparten Kunstmaleratelier unterm Dach. Erst allein als Studentin und später, als sie ihren Mann Hans-Jürgen Holle kennenlernte, mit ihm und ihren vier Kindern. Sie vergrößerten die Wohnung, indem sie diese mit der im vierten Stockwerk des Südwestkorso 68 gelegenen Vierzimmerwohnung über eine Treppe zusammenlegten. So entstand eine schicke Maisonette-Wohnung. Dabei blieb das Maleratelier in seinem Grundriss und mit den großen hohen Fenstern erhalten.
Ein Maler hat indessen in dem reizvollen Atelier in der Mansarde nie gewohnt. Dafür zog es neben den Comedian Harmonists auch noch einen anderen Prominenten in das Dachgeschoss: Nach dem Zweiten Weltkrieg fand Peter von Zahn als erster Mieter hier sein Quartier. Der bekannte Rundfunk- und Fernsehjournalist war wesentlich am Wiederaufbau des Hörfunks und der Gründung des Fernsehens in der Bundesrepublik beteiligt. Er wohnte ein Dreivierteljahr in der Wohnung.
Bettina Karl
Die Comedian Harmonists – eine deutsche Geschichte
Die Comedian Harmonists traten nach monatelangen Proben zum ersten Mal am 28. September 1928 in Erik Charells berühmten „Großem Schauspielhaus“ in Berlin auf. Schnell eroberten sie die Herzen der Berliner und wurden schon bald von allen renommierten Veranstaltern der Metropole gebucht. Gastspiele in anderen großen deutschen Städten, Rundfunk- und Filmauftritte sowie ein Exklusiv-Vertrag mit der Plattenfirma Electrola folgten. Bis zum Frühjahr 1935 nahmen die Comedian Harmonists 69 Platten auf. Mit Liedern wie „Mein kleiner grüner Kaktus“, „Ein Freund, ein guter Freund“, „Wochenend und Sonnenschein“ und „Veronika, der Lenz ist da“ verzauberten sie Millionen Menschen.
Als Adolf Hitler im Jahr 1933 an die Macht kam, mussten alle Künstler in Deutschland der Reichskulturkammer beitreten. Den Antrag der Comedian Harmonists lehnte man mit der Begründung ab, dass drei Mitglieder des Ensembles Juden beziehungsweise „Nichtarier“ seien. Das kam einem Auftrittsverbot gleich.
Daher einigten sich die Musiker und bildeten aus den Comedian Harmonists zwei neue Gruppen: Die „Arier“ Robert Biberti, Erwin Bootz und Ari Leschnikoff gründeten mit drei anderen Musikern das „Meistersextett“, blieben in Deutschland und wurden offiziell in die Reichsmusikkammer aufgenommen. Die „Nichtarier“ gingen ins Ausland. Als sogenannte „Wiener Gruppe“ bestanden die Comedian Harmonists aus Erich Collin, Roman Cycowski und Harry Frommermann sowie den neuen Mitgliedern Hans Rexeis, Rudolf Mayreder und Ernst Engel. „Ich wollt‘, ich wär‘ ein Huhn“ war wohl einer der berühmtesten Titel, den diese Formation herausbrachte. Doch auch das Bestehen dieser Gruppe war zeitlich begrenzt. Nach einer Europatournee außerhalb Deutschlands löste sie sich 1941 auf.
Obwohl alle sechs Gründungsmitglieder der Comedian Harmonists das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg überlebten, traten sie nie wieder gemeinsam auf. 1998 erhielten sie posthum den Musikpreis Echo für ihr Lebenswerk.
bk
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Am 3. Januar 1928 bat Harry Frommermann, 21 Jahre alt, zum Vorsingen in seine kleine Wohnung im Dachgeschoss in der Stubenrauchstraße 47 in Friedenau. Daraus hervor gingen die legendären „Comedian Harmonists“.
MieterMagazin 5/10
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08.03.2016