Die dreistöckigen Wohnblocks am Kissingenplatz sind einfach und sachlich gebaut. Kleine Balkone und Erker durchbrechen die geraden Wandflächen. Kein Graffiti verunziert die Häuser. Kein Müll verschandelt die Grünanlagen. Die Vorstellung, dass hier 20 Jahre lang der Dramatiker und Regisseur Heiner Müller wohnte, fällt insofern nicht schwer, als der Kiez in Pankow heute noch an DDR-Zeiten erinnert.
Man muss schon nah herantreten, um die Schrift auf der unscheinbaren, rostfarbenen Gedenktafel lesen zu können. Gleich neben der mit Klinkern eingefassten Haustür am Kissingenplatz Nummer 12 ist sie angebracht. Die Geschichte, an die sie erinnert, ist umso spannender: Es ist die eines unbequemen Dramatikers, Dichters und Denkers, der in der DDR zu Hause, aber weit über ihre Grenzen hinaus bekannt war.
Im Jahr 1959 ziehen Heiner Müller und seine Frau Ingeborg in die Zweiraumwohnung oben rechts im zweiten Stock. Mit Bad und Kohlebadeofen ist diese für die damalige Zeit schon ziemlich komfortabel. Auch die ruhige Gegend ist für Künstler – Ingeborg Müller ist ebenfalls Schriftstellerin – ein guter Ort zum Arbeiten. Zu jener Zeit ist Heiner Müller Mitarbeiter im Maxim-Gorki-Theater und beginnt gerade, sich als freier Autor zu profilieren. Die 1960er Jahre sind schwierige Zeiten. Seine Ansichten stoßen den DDR-Oberen auf. Einige Stücke, die hier in der Pankower Wohnung entstehen, werden verboten. Es folgen Arbeiten – meist unter Pseudonym – für Rundfunk, Kino und Fernsehen. 1966 nimmt sich Inge Müller in der Wohnung am Kissingenplatz 12 das Leben. Ihr Mann Heiner bleibt bis 1979 in Pankow wohnen.
Wer hier wohnt, bleibt auch
Heute gehört die Wohnanlage dem Wohnungsbau-Verein Neukölln (WBV). Der Wohnkomplex entlang der Neumannstraße, der Granitzstraße, der Mittenberger Straße und dem Kissingenplatz bildet ein Karree und umschließt einen mit alten Bäumen bewachsenen, großen grünen Innenhof. Das ist eine richtige kleine Idylle. Kein Wunder, dass die Wohnungen hier sehr beliebt sind. Die Fluktuationsrate erreicht nicht einmal sechs Prozent. Und mittlerweile sind 70 Prozent der Bewohner Genossenschaftsmitglieder.
„Am 1. Januar 1992 haben wir die Gebäude im Kissingenviertel rückübereignet bekommen“, sagt Günter Jagdmann, Vorstandsmitglied des WBV Neukölln. Damals waren sie ziemlich heruntergekommen, erinnert sich der freundliche Mann. So begann die Genossenschaft unmittelbar nach der Übereignung mit den Instandsetzungs- und Modernisierungsarbeiten. Die Fassaden wurden neu verputzt, Zentralheizungen eingebaut, Bäder modernisiert und die Außenanlagen neu gestaltet.
„Das war nicht einfach“, resümiert Jagdmann und erklärt: „Der gesamte Komplex steht unter Denkmalschutz – aber nach langen Verhandlungen ist es uns sogar gelungen, dass wir in dem Denkmalbau Kunststofffenster einbauen dürfen.“
Geschichtsträchtige Nachbarn
Die Wohnung, in der Heiner Müller lebte und arbeitete, ist heute vermietet. Aus den Fenstern zum Kissingenplatz kann man links die in norddeutscher Backsteingotik erbaute Pfarrkirche St. Georg, rechts das wuchtige Gebäude des „Rosa-Luxemburg-Gymnasiums“ sehen. Beide historischen Bauwerke ragen monströs aus den Häuserreihen heraus. So richtig passen sie nicht in das Ensemble der schlichten Wohnblöcke.
In den 20er Jahren war das Kissingenviertel ein attraktives Entwicklungsgebiet. Die grüne Umgebung, Laubenkolonien und die noch verkehrsarmen Straßen boten zahlreiche Freizeitmöglichkeiten. Auch der Beamten-Wohnungs-Verein aus Neukölln verließ seine Bezirksgrenzen, um von 1926 bis 1929 am Kissingenplatz in Pankow diesen vierseitigen Gebäudekomplex zu erbauen. Dafür wurden die Architekten Mebes und Emmerich engagiert, die 104 Wohnungen in dreigeschossiger Blockrandbebauung errichteten. Von 1949 bis zum Mauerfall unterstand die Siedlung der kommunalen Wohnungsverwaltung der DDR.
Bettina Karl
Ein Künstlerleben zwischen Berufsverbot und Staats-Orden
Heiner Müller wird am 9. Januar 1929 im sächsischen Eppendorf als Sohn eines Beamten und Sozialdemokraten geboren. Noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges ruft man ihn zum Reicharbeitsdienst ein. Er entkommt amerikanischer Gefangenschaft und tritt 1947 in die SED ein. Seine Laufbahn beginnt er 1949 mit der Teilnahme an einem Schriftstellerlehrgang in Dresden.
Ab 1950 schreibt er Literaturkritiken für den „Sonntag“ und arbeitet von 1953 an als Journalist für die „Neue deutsche Literatur“. Aber die Sicht Heiner Müllers „auf die Dinge“ sind in der DDR zunehmend unerwünscht und enden oft mit Publikations- und Aufführungsverboten. Darum bleiben viele Texte Müllers einem breiten Publikum der DDR verschlossen, werden aber in der Bundesrepublik veröffentlicht. Im Durchschnitt tauchen seine Arbeiten erst 15 Jahre nach ihrer Entstehung auf den Bühnen der DDR auf.
Als Müllers „Die Umsiedlerin“ im Jahr des Mauerbaus 1961 nach der Uraufführung verboten wird, kommt es zu seiner systematischen Ausgrenzung aus dem literarischen Leben der DDR. Er wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Dennoch arbeitet er von 1970 bis 1976 beim Berliner Ensemble (BE) als Dramaturg. Später wechselt er zur Volksbühne.
Im Jahr 1984 wird Heiner Müller Mitglied der Akademie der Künste der DDR. Mit der Verleihung des „Nationalpreises Erster Klasse der DDR“ durch Staatschef Erich Honecker 1986 folgt eine späte Rehabilitierung. Doch Müller selbst sieht das als Zeichen nahenden Untergangs des Staates, in dem zu leben ihm so wichtig war.
Neben vielen anderen Prominenten hält auch er am 4. November 1989 eine Rede bei der Kundgebung auf dem Alexanderplatz. Nach dem Zusammenbruch des Staates betätigt sich Müller überwiegend als Regisseur. 1990 wird er zum letzten Präsidenten der Akademie der Künste in Ost-Berlin gewählt. Am 30. Dezember 1995 stirbt Heiner Müller in Berlin an Krebs.
bk
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MieterMagazin 4/11
Der Innenhof des Ensembles Kissingenplatz 12 um die 1930er Jahre
Foto: Archiv WBV Neukölln
Die Wohnanlage steht unter Denkmalschutz – nach der Rückübertragung 1992 wurde sie modernisiert
Fotos: Sabine Münch
Genossenschaftsvorstand Günter Jagdmann zeigt die Tafel, die an Heiner Müller erinnert
Fotos: Sabine Münch
08.03.2016