Der Chamissoplatz in Kreuzberg ist ein gefragtes Wohnviertel: Gründerzeitfassaden und nostalgisierende Straßenlaternen lassen Jahrhundertwenderomantik aufkommen. Bürgerschaftliches Engagement in den 1980er Jahren hat die historischen Bauten vor der Abrissbirne bewahrt, heute ist die Verdrängung der ursprünglichen Bewohner durch Luxussanierungen jedoch nicht mehr aufzuhalten. Franziska Blöcker lebt seit 35 Jahren im Kiez. Sie rief im Jahr 1993 den Ökomarkt ins Leben, der sich nach wie vor großer Beliebtheit erfreut.
Als Franziska Blöcker im Jahr 1977 in ihre „Traumstadt“ zurückkehrt, ist ihr klar, wo sie leben will: in Kreuzberg, an der Grenze zu Tempelhof. Hier ist ihre Mutter aufgewachsen, bei einer Tante, die am heutigen Platz der Luftbrücke einen Frisiersalon besaß, ein altes Foto erinnert noch daran. An den Kiez besitzt sie selbst zahlreiche Kindheitserinnerungen, die jedoch vom Krieg überschattet sind. Im Jahr 1945 verließ die Mutter – der Vater war im Krieg geblieben – mit ihr und ihren drei Geschwistern das brennende Berlin und gelangte mit der von den englischen Besatzern initiierten „Aktion Storch“ auf die Insel Norderney. Die Familie kehrte nicht mehr nach Berlin zurück und wurde später über Süddeutschland nach Sylt umgesiedelt. Das ist der Grund, warum Franziska Blöcker bis heute eine enge Beziehung zum Meer hat, denn diese Inseln boten ihr Sicherheit nach den Erlebnissen als Sechsjährige in der zerbombten Stadt. Als sie zurückkehrte, hatte auch Berlin Inselstatus, denn das brandenburgische Umland gehört zum Hoheitsgebiet der DDR. So sind es vielleicht sogar drei Inseln, die ihr Leben geprägt haben.
Die Wohnbauten rund um den Chamissoplatz werden in den 70er Jahren noch von Vorkriegszuständen dominiert: licht- und luftarme, eng bebaute Hinterhöfe, unsanierte Wohnungen mit Außentoiletten, verfallende Hausfassaden prägen den Kiez in dieser Zeit. Franziska Blöcker hat Glück: Ihre Wohnung in der Fidicinstraße, in Sichtweite des Wasserturms, hat ein eigenes kleines Bad, wenn auch ein einfaches, sowie einen kleinen Garten im Hinterhof. Sie bekommt in dieser Zeit wenig mit von den Senatsplänen zur Sanierung des Altbauquartiers: Ihr Leben besteht in ihrer Arbeit als Krankenschwester in der Unfallchirurgie des Klinikums Steglitz.
1979 wird der Chamissoplatz zum Sanierungsgebiet erhoben, der Senat sieht eine umfassende Entkernung der Höfe durch Abriss vor – zur großen Empörung der Anwohner. Ein „Mieterrat Chamissoplatz“ nimmt die Bewohnerproteste damals organisiert in die Hand und 17 im Vorfeld der erwarteten Sanierung bereits freigezogene Häuser werden besetzt – was letztendlich ihren Abriss verhindert.
Franziska Blöcker erinnert sich gut an die Zeit der Hausbesetzungen: „Ich war oft ein bisschen neidisch, ich bin immer schön ins Klinikum zum Arbeiten gefahren und die saßen da den ganzen Tag in der Nähe des Wasserturms auf den Bürgersteigen. Da dachte ich manchmal, das würde ich auch gerne machen. Aber ich war zu angepasst.“ Ihr Wohnhaus ist nicht Teil des Sanierungsgebietes und die Konflikte mit ihrem eigenen Vermieter löst sie – bis heute – mithilfe des Berliner Mietervereins, so dass sie damals von den Auseinandersetzungen im Quartier nur wenig mitbekommt.
Auf neuen Wegen
Ein berufliches Umdenken führt Franziska Blöcker dann aber wesentlich näher an die Belange ihres unmittelbaren Wohnumfeldes heran: Nach 20 Jahren in der Krankenpflege kommt ihr Ende der 80er Jahre die Idee, anderen Menschen eine gesunde Ernährungsweise nahezubringen. Nach einer Ausbildung zur ökologischen Kauffrau gibt sie als Ernährungsberaterin und Gesundheitserzieherin Kochkurse für Mütter und Kinder. Die Gründung der „Food-Coop Chamisso“ im Jahr 1991 ist der nächste Schritt und trifft auch den Zeitgeist eines erwachenden Bewusstseins für ökologische Ernährungsweise. „Im Nu hatten wir eine Warteliste“, erinnert sie sich. „Der kleine Nachbarschaftsladen, in dem ich mich engagierte, wurde schnell zu eng, ich habe dann dafür gekämpft, dass wir in einem kleinen Raum beim Mieterrat die Food-Coop betreiben konnten.“
Nach der Wende werden im Berliner Umland die ersten Bio-Höfe gegründet – bislang mussten ökologisch angebaute Produkte über weite Strecken in die Metropole transportiert werden. Die begrenzten räumlichen Möglichkeiten der Food-Coop bringen Franziska Blöcker auf die Idee, auf dem Chamissoplatz einen Ökomarkt ins Leben zu rufen. Wochenmärkte sind in Kreuzberg ohnehin rar und Anfang der 90er ist der Boom von Bio-Supermärkten noch in weiter Ferne. Sie schreibt ein Konzept, das beim Wirtschaftsamt Zustimmung findet und im Herbst 1993 ist es soweit: Die ersten regionalen Händler bieten saisonales Gemüse, Eier, Brot, Milchprodukte und ökologisch produzierte Bekleidung auf dem Markt an.
Der Markt hat auch Gegner
Sieben Jahre lang, bei Wind und Wetter, sorgt Franziska Blöcker dafür, dass der Markt auf dem Chamissoplatz stattfindet, allen Widrigkeiten zum Trotz. Nicht immer ist das einfach, denn nicht alle Kiezbewohner freuen sich gleichermaßen über den Markt. Jede positive Initiative hat auch ihre Kehrseite: die zusätzliche Lärmbelästigung an Markttagen führt bei den Anrainern am Chamissoplatz auch zu Verärgerung, und auch von Gentrifizierungsgegnern wird das Geschehen mit gemischten Gefühlen beäugt: Der Markt trägt zur Aufwertung des Quartiers bei und erhöht damit für den potenziellen Käufer einer Immobilie am Chamissoplatz den Anreiz zum Erwerb, ebenso wie die frisch sanierte Markthalle und das „Szene-Feeling“ auf der Bergmannstraße.
Im Jahr 2000 übergab Franziska Blöcker dem Anbauverband GÄA-Nordost den Weiterbetrieb des Marktes. „Ich war gerade 60 geworden und konnte in Rente gehen. Ich bin heute sehr zufrieden mit der Lösung, die ich damals gefunden habe, denn ich wollte immer, dass der Markt den Bauern gehört“, sagt sie. „Ich habe aber als Bedingung ausgehandelt, dass ich hier mein Leben lang einen Stand betreiben darf, ohne Standgebühr dafür zu zahlen.“ Eine Zeitlang verkaufte sie noch an diesem Stand frisch gekochte Gemüsesuppen – die Arbeit wurde ihr mit den Jahren aber zu beschwerlich, so dass ihr Engagement für den Markt um 2002 herum langsam zu Ende ging. Auf dem Markt kennt man sie aber nach wie vor: Wenn sie einkaufen geht, wird sie ständig für ein kleines Schwätzchen aufgehalten.
Aber längst hat sie in ihrem Kiez ein ehrenamtliches Betätigungsfeld gefunden, das sie wieder stark in Anspruch nimmt: Sie ist als stellvertretende Vorsitzende der Seniorenvertretung Friedrichshain-Kreuzberg und in diversen Gremien engagiert.
Elke Koepping
Misslungener Milieuschutz
Am 19. August 2003 hat der Senat vier Sanierungsgebiete in West-Berlin aufgehoben, darunter auch das am Chamissoplatz, das älteste und weitaus größte der vier. Heinz Kleemann, Rechtsberater beim Berliner Mieterverein, ist der Auffassung, dass „eine direkt an die Aufhebung anschließende Milieuschutzsatzung sofort“ hätte in Kraft treten müssen, „um wenigstens die Mieten in ihrer Höhe zu deckeln“. Diese Entscheidung wurde seitens des Senats jedoch verzögert, so dass zwischen 2003 und Ende 2004 sehr viele Häuser verkauft, in Wohneigentum umgewandelt und luxussaniert wurden. Heute zahlt man am Chamissoplatz die höchsten Mieten in Kreuzberg. Auch die Aufwertung der Bergmannstraße spielt eine Rolle: Der Mietendruck steigt, die Bevölkerungsstruktur ganzer Straßenzüge rund um den Chamissoplatz hat sich verändert, zum Teil werden komplette Häuser als Ferienwohnanlagen für Berlinbesucher betrieben. Der Kiez Chamissoplatz ist im Grunde ein Paradebeispiel für eine misslungene Milieuschutzpolitik.
ek
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MieterMagazin 9/10
Das Frisiergeschäft der Tante um 1930 …
Fotos: privat
… als Ernährungsberaterin im Nachbarschaftsladen 1991
Marktverkäuferinnen mit 2 großen Kürbissen auf einer Sackkarre
Den Ökomarkt am Chamissoplatz hat Franziska Blöcker aus der Taufe gehoben
Tipp: Alf Bremer u.a., Kreuzberg Chamissoplatz. Geschichte eines Berliner Sanierungsgebietes,
Berlin 2007, 144 Seiten, 18 Euro
Ökomarkt Chamissoplatz,
samstags von 8 bis 14 Uhr,
weitere Informationen:
www.oekomarkt-chamissoplatz.de
08.03.2016