Berlin ist eine weltoffene Stadt. Fast jeder dritte Hauptstädter kommt aus dem Ausland. Toleranz und Respekt für andere Ansichten, Lebensweisen, Kulturen und Religionen sind unerlässliche Merkmale funktionierender Nachbarschaften.
In manchen Quartieren in Kreuzberg, Wedding und Neukölln sind Migranten in der Mehrheit. Der Zustrom von Flüchtlingen verstärkt diese Tendenz. Sie sind bei der Integration in die Gesellschaft besonders auf funktionierende Nachbarschaften angewiesen. Wer hilft Asylbewerbern, wenn sie eine passende Unterkunft gefunden haben oder zumindest für längere Zeit in einem geeigneten Hostel wohnen, bei Behördengängen und bei der Eingewöhnung in eine völlig neue Umgebung?
Das Bezirksamt Mitte hat mit Ehrenamtlichen eine Sondersozialkommission „Wohnbegleitung für Flüchtlinge“ gegründet, die im Januar ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie soll bei der Wohnungssuche, der Wohnungsbesichtigung, dem Umzug und der Erledigung der damit verbundenen Formalitäten helfen, aber auch beraten, wenn es zum Beispiel um die Vorstellung bei den Nachbarn, die Einhaltung der Nachtruhe oder die Mülltrennung geht.
Inzwischen gibt es in jedem Bezirk zahlreiche positive Beispiele für gelebte Nachbarschaften mit Angehörigen anderer Kulturen. Im August 2015 wurde das stadtweite gemeinnützige Projekt „Berlin hilft!“ gegründet, um die ehrenamtliche Hilfe der Berliner für Flüchtlinge und Hilfesuchende zu koordinieren. Auf Initiative einer Friseurmeisterin aus Charlottenburg mit türkischem Migrationshintergrund und mit Hilfe türkischstämmiger Spender wurde in der Notunterkunft Fehrbelliner Platz 4 im November 2015 ein Friseursalon eröffnet. Im Stadtteilbüro Friedrichshain findet regelmäßig ein Stricktreff statt. Der „Reistrommel e.V.“ berät Flüchtlinge aus Asien. Als Ahmet Çalı¸skans Gemüseladen „Bizim Bakkal“ in der Wrangelstraße 77 vom Vermieter die Kündigung bekam, protestierten die Nachbarn so lange, bis diese zurückgenommen wurde.
Hüseyin Ünlü betreibt am Leopoldplatz das „Café Leo“. Die Mieter aus der Nachbarschaft nutzen das Angebot neben dem neuen Fontänenfeld auch als soziale Anlaufstelle. Als das Straßen- und Grünflächenamt ankündigte, die Sondernutzung nicht weiter zu gewähren, gab es massive Proteste. Im November 2015 versprach Carsten Spallek, Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Bauen, Wirtschaft und Ordnung in Mitte, die Ausnahmegenehmigung für den Betreiber zu verlängern, bis ein abgeschlossenes Konzept zur Gestaltung des Leopoldplatzes vorliegt.
Viele Beispiele belegen, dass ein bereicherndes Zusammenleben der Kulturen möglich ist – wenn alle Seiten dazu bereit sind. Toleranz und Respekt – zwei wichtige Grundlagen funktionierender Integration – beginnt immer in der unmittelbaren Nachbarschaft. Warum nicht den türkischen Nachbarn mal zum Kaffee einladen?
Aber gehören zu den „anderen Kulturen“ wirklich nur die Kulturen der Menschen, die aus dem Ausland in die Stadt kommen? Unterscheiden sich die Kulturen unterschiedlicher sozialer Schichten der deutschen Bewohner nicht in gleichem Maße? Die Lebensgewohnheiten eines Akademikers und eines Hartz-IV-Empfängers, die in einem Haus wohnen, können mindestens ebenso verschieden sein.
Die „Berliner Mischung“ wird so denn auch nicht durch andere Kulturen, sondern vor allem durch steigende Mieten bedroht, die die Stadt zunehmend in arme und in reiche Viertel aufteilt. Der Senat muss mit seiner Wohnungspolitik und dem Bau von Sozialwohnungen für Einkommensschwache und für Flüchtlinge dieser Entwicklung entgegenwirken. Berlin war immer ein Schmelztiegel der Kulturen und Gesellschaftsschichten – und hat einen guten Ruf zu verteidigen.
Rainer Bratfisch
Flüchtlinge in der Nachbarschaft
Marina Naprushkina, geboren 1981 in der weißrussischen Hauptstadt Minsk, lebt seit einigen Jahren in Berlin – als Performance-Künstlerin, Aktivistin und Autorin. Im September 2013 gründete sie die Initiative „Neue Nachbarschaft/Moabit“. Sie soll Migranten, Asylbewerber und die Bevölkerung in der Nachbarschaft zusammenführen. Über 100 Ehrenamtliche engagieren sich hier. Zurzeit baut ihre Initiative ein „Kulturhaus“ für die Nachbarschaft aus der ganzen Welt. Das Credo der Autorin: Flüchtlinge können uns zu besseren Nachbarn machen. Ihr Buch zeigt, wie’s geht.
rb
Marina Naprushkina: Neue Heimat? Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen. Berlin 2015, 16,99 Euro
MieterMagazin-Extra: Nachbarschaften
Zwei Nachbarschaften in Berlin: In guten und schlechten Zeiten
Digitale Netzwerke: Nachbarschaft 2.0
Nachbarschaftszusammenschlüsse: Solidarität im Ernstfall
Nachbarschaften und soziale Abgrenzung: Arm und Reich rücken auseinander
29.01.2016