Wer länger nicht mehr dort war, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Neben schmuddeligen Döner-Imbissen und Strip-Lokalen sieht man in der Potsdamer Straße schicke Läden, die man eher im Bezirk Mitte vermuten würde, und tatsächlich sind einige der Galerien und Modedesigner auch aus Mitte hierher gezogen.
Regine Wosnitza kann den derzeitigen Hype um die Potsdamer Straße nicht so recht nachvollziehen. Die Leute finden es cool, dass hier der Dönerläden neben dem Edelrestaurant und der Straßenstrich neben der Luxus-Boutique ist, dabei sei das doch nichts Besonderes, sagt die Vorsitzende der Interessengemeinschaft Potsdamer Straße. Billige Eckkneipen müsse es genauso geben wie gehobene Gastronomie, schließlich gibt es nun mal unterschiedliche Menschen: „Diese Mischung ist historisch gewachsen, das war hier schon immer so.“
Als „berlinischste Straße der Stadt“ bezeichnen die beiden Buchautoren Sibylle Nägele und Joy Markert die rund 2,5 Kilometer lange „Potse“, wo es noch bodenständige Traditionsunternehmen wie „Blickle Räder + Rollen GmbH u. Co. KG“ gibt. Der Familienbetrieb mit 700 Mitarbeitern wurde 1953 gegründet und hat seit 1993 eine Vertriebsniederlassung mit Ladengeschäft in der Potsdamer Straße 181/183. Mehr als 30.000 verschiedene Räder- und Rollentypen bietet das Unternehmen an, produziert wird im süddeutschen Rosenfeld. Zur Kundschaft in Berlin gehören unter anderem Metallbaubetriebe, Tischlereien, Krankenhäuser, Hotels und Architekten. „Bei uns kommen aber auch Privatpersonen mit ihrem defekten Bobbycar oder Koffer vorbei“, erklärt Verkaufsleiter Jörg Rosenbaum. Gerade kommt ein Mann in den Laden, der für seine Sackkarre neue Räder braucht. „Kleine Kunden sind mir genauso wichtig wie große, aus einer kleinen Sackkarre kann sich ein großer Auftrag entwickeln“, meint Jörg Rosenbaum.
Wer braucht so viele Friseure?
Während seine Firma seit nunmehr 25 Jahren in der Potsdamer Straße ansässig ist, hat Rosenbaum rundherum einen ständigen Wechsel festgestellt. „Ich wundere mich immer, wer so viele Friseure und Cafés braucht.“ In seiner Mittagspause geht er aber gern zur Fleischerei Staroske, einer Institution in der Potsdamer Straße. Seit 1972 wird hier, in der Nummer 116, deftige Hausmannskost serviert.
Dass sich der Wandel in der Potsdamer Straße vergleichsweise behutsam vollzieht, hat auch mit der Eigentümerstruktur zu tun. Viele Häuser gehören der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag oder Privateigentümern, die „noch nicht Dollarzeichen in den Augen haben“, wie es Regine Wosnitza ausdrückt.
„Aufschwung? Welcher Aufschwung?“ fragt Thomas Krause, Junior-Chef der „Lützow-Biene“: „Wenn ich morgens zur Arbeit komme, finde ich immer noch Kondome auf der Straße.“ Die Anwohnerschaft und die geringe Kaufkraft hätten sich doch nicht verändert, meint er. Dabei kann sich die Lützow-Biene nicht beklagen. Der gut sortierte Laden für Bürobedarf wird in fünfter Generation geführt und hat viele Stammkunden. Man arbeitet eng mit Schulen und Kitas zusammen und erhält viele Aufträge von Galerien und Architekturbüros. McPaper sei keine Konkurrenz, mit den Preisen könne man mithalten. „Mein Problem ist der Online-Handel, dagegen anzukommen ist enorm schwer“, erklärt der 45-Jährige. Aber dann fällt ihm doch noch etwas ein, das sich in den letzten Jahren verändert hat: „Wir haben mittlerweile eine flächendeckende Versorgung mit Imbissbuden und Restaurants.“
Wandel weitgehend ohne Verdrängung
„Als wir das erste Mal Gallery Weekend hatten, bekamen die Besucher hier nicht einmal einen Kaffee, weil alle Restaurants sonntags zu hatten“, erinnert sich Regine Wosnitza. Dass die Straße seit acht Jahren immer mehr Kreative anzieht, habe vor allem zwei Gründe. Zum einen hat das Quartiersmanagement viele Kunstprojekte angestoßen, die – neben den billigen Mieten – nach und nach Galerien anlockten. Zum anderen setzte die behutsame Entwicklung des ehemaligen Tagesspiegel-Verlagsgebäudes einen wahren Boom in Gang. Hier, schräg gegenüber dem Varieté Wintergarten, siedelten sich luxuriöse Boutiquen an, etwa Andreas Murkudis, bei dem es nicht einmal Preisschilder gibt. Der Wandel ging weitgehend ohne Verdrängung vonstatten, zu den wenigen Opfern der Gentrifizierung gehört das „Ave Maria“. Der skurrile Devotionalienladen, ein Urgestein der Straße, musste wegen einer Mieterhöhung um die Ecke ziehen. Wo vorher Weihrauch und Heiligenbild verkauft wurden, hängen nun Kleidchen des berühmten britischen Designers Sir Paul Smith für 700 Euro.
„Es hat sich leider sehr viel verändert“, seufzt Rachele-Raffaela Flamia, während sie Jesus-Figuren und Rosenkränze in die Regale der neuen „Ave Maria“-Räume in der Lützowstraße 23 einräumt. Von den alten Geschäften, die die Straße ausgemacht haben, seien nur wenige übrig geblieben. Wer glaubt, es seien vor allem Touristen, die die Papst-Amulette und Statuen als originelles Souvenir kaufen, irrt. „Wir haben auch Touristen, aber unsere Kunden sind in erster Linie gläubige Einheimische“, betont Rachele-Raffaela Flamia. Blasphemie ist der gebürtigen Italienerin zuwider. Gerade ist ein Nachbar im Laden, der sich mit Weihrauch eindeckt.
Nur ein paar Schritte weiter, mitten im Hotspot der neuen Potsdamer Straße, hat man Angst vor der Veränderung und profitiert gleichzeitig davon. Wo einst die Poststelle des Tagesspiegels war, hat sich Abdullah Demir einen Traum erfüllt: einen Laden mit extravaganten Vintage- und Retrobrillen. 10.000 Modelle hat er, darunter 3000 echte Schmuckstücke.
Abdullah Demir bekommt seine Oldtimer von Sammlern, bei Versteigerungen und von Optikern. Nicht nur seine schönen, ausgefallenen Brillen sind sehenswert, auch der winzige Laden im Industriedesign ist ein Hingucker. „Das waren die letzten Quadratmeter, die hier zu haben waren“, erzählt er. Er wusste: Hier ist viel Prominenz unterwegs – Leute, die Individuelles schätzen. Denn die Promis müssen auf dem Weg zu Murkudis und den anderen Boutiquen im Hof an seinem Geschäft im Durchgang vorbei. Als dann Elton John im „Brillenschatz“ in der Potsdamer Straße 79 auftauchte, dachte er, er träumte. Demir und Partnerin wünschen sich, dass sich nicht noch mehr teure Läden ansiedeln: „Die Straße ist gerade am Abheben, jetzt wird aussortiert.“
Auch Regine Wosnitza von der IG Potsdamer Straße hofft, dass das Biotop Potsdamer Straße mit seinem besonderen Charme erhalten bleibt: „Mehr Grün und weniger Lärm und Verkehr wären gut, aber ansonsten wollen wir die Straße so behalten wie sie ist: rau und nicht so geleckt wie anderswo.“
Birgit Leiß
Wo Fontane und die Dietrich wohnten
Die Potsdamer Straße zog schon immer Kreative und Freidenker an. Schriftsteller, Frauenrechtlerinnen und Wissenschaftler waren hier zu Hause, darunter Fontane, Chamisso und Lina Morgenstern. Ende des 18. Jahrhunderts von König Friedrich Wilhelm II. als Verbindungsweg zur königlichen Residenz in Potsdam ausgebaut, entwickelte sie sich zu einer der verkehrsreichsten Straßen im Deutschen Reich. Eine der berühmtesten Bewohnerinnen der Potsdamer Straße ist Marlene Dietrich, die als Kind in der Nummer 116 gewohnt hat.
Der Zweite Weltkrieg setzte dem geschäftigen Treiben endgültig ein Ende, und mit dem Mauerbau wurde die Straße zur Sackgasse. Lediglich das Rotlichtmilieu mit seinen Strip-Lokalen und Nachtclubs konnte sich behaupten. Bis in die 1980er Jahre beherrschten Prostitution und die Drogenszene die Potse. 1999, als Leerstand und Verödung überhandnahmen, wurde ein Quartiersmanagement eingesetzt, das mit verschiedenen Maßnahmen versuchte, das lokale Gewerbe zu stärken.
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Buchtipp:
Joy Markert, Sibylle Nägele: Die Potsdamer Straße – Geschichten, Mythen und Metamorphosen. Metropol-Verlag 2011, 29,90 Euro
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25.03.2021