Direkt am U-Bahnhof Alt-Tegel beginnt eine der idyllischsten Geschäftsstraßen Berlins. Vom Verkehrsgetümmel der Berliner Straße führt sie über ein kurzes Stück Fußgängerzone und eine urige Dorfkirche hin zum Tegeler See. Wenn man dort am Ufer steht und den Schiffen nachschaut, kommt Urlaubsgefühl auf.
Die nur knapp 900 Meter lange Straße Alt-Tegel führt direkt zur Greenwich-Promenade, wo sogar Kreuzfahrtschiffe aus Prag ihre Passagiere ausspucken. Bei schönem Wetter im Sommer ist hier die Hölle los. Die Ausflügler strömen von und zur Anlegestelle und bevölkern die Außenterrassen der zahlreichen Cafés und Restaurants. Im Winter ist dagegen tote Hose, wie Tomasz Switala und Rajmund Wieloch, Inhaber der „Brasserie Alt-Tegel“, erzählen: „Es kommen zwar auch Spaziergänger, vor allem an den Wochenenden, aber insgesamt ist es viel ruhiger.“ Von den Ausflüglern allein kann und will das rustikal eingerichtete Lokal daher nicht leben. Doch die Konkurrenz ist groß. Es sei ein ewiger Kampf, besser als die anderen zu sein, seufzt Tomasz Switala. Die Brasserie setzt auf eine gutbürgerliche Küche und – als besondere Spezialität – die irischen Bier-Spezialitäten Guiness und Kilkenny vom Fass. Ab und zu gibt es Konzerte, ansonsten will man auch für die Anwohner ein gemütlicher Treffpunkt sein, wo man gut essen und ein Bierchen trinken kann. Zwei Stammgäste erzählen, dass sie extra aus Hermsdorf und Frohnau hierher kommen. „Dort gibt’s ja nichts mehr – die Kneipen sterben“, meinen sie, während sie draußen vor der Tür eine Zigarette rauchen. In der Brasserie fühlen sie sich wohl und die Preise seien okay.
Rajmund Wieloch, der das Lokal seit 25 Jahren betreibt, sagt, dass es schon immer viel Gastronomie in Alt-Tegel gab, aber dass es in den letzten Jahren noch zugenommen habe. Obwohl seit einiger Zeit mehr junge Leute hierherziehen, wohnen nach wie vor überwiegend ältere Menschen im Kiez. Ein Friseur und ein Lebensmittelgeschäft mit Tante-Emma-Charakter haben kürzlich zugemacht. Seitdem gibt es in der Straße praktisch keinen Laden zur Nahversorgung mehr. Für einen Liter Milch oder Katzenfutter muss man bis zur Berliner Straße laufen – für Menschen, die nicht mehr gut zu Fuß sind, ein Problem. Die Gewerbemieten sind happig, die Straße gilt aufgrund des Ausflugsverkehrs als 1a-Lage. „Das sollte mal ein Klein-Venedig werden, hat aber nicht ganz geklappt“, meint Wieloch.
Was will man mehr?
„Hier wohnt die höhere Mittelschicht, Beamte und so“, sagt Daniel Gudelj, der mit seiner Frau das Restaurant „Blaue Laguna“ betreibt. Qualität zu günstigen Preisen bietet er an. Seit 35 Jahren gibt es das Lokal mit kroatischen und internationalen Spezialitäten. Vor drei Jahren hat das Ehepaar noch einen Eisladen nebendran eröffnet. „Tegel ist super, das Leben macht Spaß hier“, schwärmt der Chef, der mit seiner Familie im Haus wohnt. Die U-Bahn fast vor der Haustür, der See ebenfalls, die Kita des Sohnes gegenüber – was will man mehr. Viele Gäste kennt er persönlich, auch auf der Straße begrüßt er viele mit Handschlag. Im Sommer seien etwa 35 Prozent der Kundschaft Ausflügler, im Winter weniger, sagt Gudelj, der aus Split stammt. Man habe viele Stammgäste, und einige kommen fast jeden Tag. „Das Essen schmeckt immer, und ich muss nicht kochen“, meint eine Frau, die gerade bezahlen will. Auch der frühere Regierende Bürgermeister Wowereit war schon in der „Blauen Laguna“, wie ein vergilbter Zeitungsausschnitt beweist. „Ach, das ist doch nichts Besonderes“, winkt Gudelj ab. Prominente aus dem Bundestag und Botschafter habe man ebenfalls schon zu Gast gehabt.
Dönerläden sucht man dagegen in Alt-Tegel vergeblich. Dafür gibt es gleich ein halbes Dutzend Eisdielen und viele schöne, historische Gebäude, in denen zum Beispiel das „Hax’nhaus“ eine Wirtschaft mit alt-bayerischem Ambiente untergebracht ist.
Der Dorfkern blieb erhalten
Experimentierfreudig sind die Tegeler nicht. „Könnte besser laufen“, meint die junge Frau, die den Imbiss mit Asia-Street-Food betreibt. Vor ein paar Jahren sei sie mal hier vorbeigelaufen und hat gesehen, dass der Laden zu vermieten sei, erzählt sie. „Aber das Umfeld ist schon sehr rustikal.“
„Das Besondere an Alt-Tegel ist, dass man den historischen Dorfkern weitgehend erhalten hat“, sagt Felix Schönebeck. Er ist Vorsitzender der Initiative „I love Tegel“, CDU-Bezirksverordneter und außerdem Mitglied des Unternehmerstammtischs Tegel, der sich regelmäßig im Hax’nhaus trifft. Die schönen alten Gaslaternen, die Straßenschilder in altdeutscher Schrift – all dies ergebe einen ganz eigenen Charme, vor allem am Abend. Als Flaniermeile zum Tegeler See habe die Straße ohne Zweifel ein hohes Potenzial. Allerdings bleiben bei einer solch hohen Gastronomiedichte Konflikte mit den Anwohnern nicht aus. Es gebt viele Beschwerden wegen Lärm, sagt Schönebeck, aber man versuche, sie im Einvernehmen zu lösen.
Der Einzelhandel ist dagegen eindeutig unterrepräsentiert. Eines der wenigen Fachgeschäfte ist die Confiserie Julius Schönborn. Der kleine Laden ist ein Paradies für Süßigkeiten-Junkies: handgemachte Pralinen, Trüffel und Schokoladen, außerdem Tee, Liköre, Porzellan und Geschenke liegen hübsch präsentiert in den Regalen. Vor dem Krieg hatte das Süßwarengeschäft Julius Schönborn 36 Filialen in Berlin, die von der eigenen Produktionsstätte in der Köpenicker Straße 139/140 beliefert wurden. Die Firma war aus einer Bonbonkocherei hervorgegangen und dann gewachsen, erzählt Susanne Bujack, die den Laden zusammen mit ihrem Mann betreibt. Stolz zeigt sie historische Fotos von der alten Fabrik und der Belegschaft aus den 1930er und 1940er Jahren. Die Filiale in Tegel ist als einzige übriggeblieben, weil sich der Firmensitz nach dem Mauerbau in Ost-Berlin befand. „Wir verkaufen Dinge, die kein Mensch braucht – Luxus für den Gaumen.“ Da könne man schon allerhöchste Qualität erwarten. 6,50 Euro kosten 100 Gramm lose Pralinen. Als Dankeschön für die treue Kundschaft liefert man den älteren Herrschaften die Pralinenschachtel auch schon mal nach Hause. „Wir sind um Längen besser als die Filialisten“, sagt Susanne Bujack selbstbewusst. Nicht nur weil man nur hochwertige Qualität im Sortiment hat, sondern auch, weil man auf Sonderwünsche flexibel reagieren kann. Auf Nachfrage werden auch kleine Mengen von einer bestimmten Schokolade oder Pralinensorte besorgt. Mit dem Standort sind die beiden rundum zufrieden. Das Geschäft brummt, nicht nur zu Ostern und Weihnachten.
Birgit Leiß
Ausflugsidylle mit Dorfkirche
Der Ortsteil Alt-Tegel war schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner. Die heutige Straße Alt-Tegel bildete den Kern des damaligen Dorfes und hieß bis Ende des 19. Jahrhunderts daher einfach Dorfstraße. Erst nach der Erweiterung des Straßennetzes und der Eingemeindung des einstigen Vororts zu Groß-Berlin im Jahr 1920 erhielt sie 1937 ihren heutigen Namen. Die Dorfkirche Alt-Tegel stammt aus den Jahren 1911/1912 und ist von einer Grünanlage sowie einigen Grabmälern umgeben. 1973 wurde in Alt-Tegel eine der ersten Fußgängerzonen West-Berlins eingerichtet, allerdings nur eine Stummelzone entlang von sechs Grundstücken. Drei Jahre später wurde der Platz am U-Bahn-Ausgang mit einem Granit-Mosaik-Pflaster, Bänken und Beton-Blumenschalen gestaltet. Die Bebauung der Straße besteht überwiegend aus Wohn- und Geschäftshäusern aus der Gründerzeit, einige davon sind denkmalgeschützt. Auch eines der ältesten Fachwerkhäuser, ein so genanntes Büdnerhaus aus dem Jahr 1839, ist in der Nummer 18 erhalten geblieben. Heute befindet sich hier das Café Wetterstein.
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11.07.2019