Die Wilhelminenhofstraße in Schöneweide ist ein Eldorado für Fans der Industriearchitektur. Entlang der Spree reihen sich imposante Fabrikbauten aneinander – Überbleibsel einer Zeit, als Schöneweide das größte innerstädtische Industriegebiet Europas war. Die andere Straßenseite dagegen ist geprägt von Tristesse. Schmuddelige Dönerläden, in denen den ganzen Tag über der Automat piept, wechseln sich ab mit Nagelstudios und Spätis. Doch allmählich ziehen wieder mehr anspruchsvolle Geschäfte in die Gegend.
In der Nummer 49, einem lange leerstehenden und heruntergekommenen Laden, hat im März 2016 „Fachgerecht“ eröffnet, ein Laden für Kreatives und Handgemachtes. Hier gibt es selbstgenähte Kinderkleidchen, handgefertigten Schmuck und Imkerhonig aus Köpenick. Inhaberin Josephine Bleich hat ihr Geschäft mit viel Liebe zum Detail eingerichtet. In hübschen Einmachgläsern stecken Reißverschlüsse, und auf den Regalen sind kunstvoll bunte Baumwollbänder drapiert. „Wir machen auch Sonderanfertigungen, den Stoff kann man sich aussuchen“, erklärt die Mutter dreier Kinder, die selber in Schöneweide wohnt. Wer lieber selber nähen will, findet hier allerlei Zubehör. „Das Konzept wird sehr gut angenommen, man merkt schon, dass viele Familien mit Kindern zugezogen sind“, freut sich die Inhaberin.
„Seien wir ehrlich, das ist mit Sicherheit nicht die schönste Straße Berlins“, meint Marcel Bursch, der im Nachbarhaus Taschen und Turnbeutel mit ausgefallenen Motiven verkauft. Auch er setzt auf handgefertigte Einzelstücke und hatte gewisse Hoffnungen, dass ihm die nahegelegene Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) reichlich Kundschaft beschert. Mittlerweile ist bei ihm Ernüchterung eingekehrt. Das meiste verkauft er über das Internet.
Zwar sei die Straße zumindest tagsüber bevölkert von Studenten, doch davon profitieren vor allem die Bäckereien, meint Marcel Bursch, der selber seit 15 Jahren im Kiez lebt. „Das Umfeld ist nach wie vor schwierig, und der Wandel kommt nur langsam in Gang“, lautet seine Bilanz eineinhalb Jahre nach der Eröffnung von „Turnbeutelliebe“.
Beliebter Boulevard in DDR-Zeiten
Dass die Wilhelminenhofstraße kein einfaches Terrain für Einzelhändler ist, liegt nicht nur an der fehlenden Kaufkraft der Bewohner. Zum Flanieren lädt die Straße zweifellos nicht ein. Zwischen den Fabriken, die heute von Fitnessstudios, Kreativunternehmen, zum Teil auch noch von herstellenden Betrieben genutzt werden, und den Wohn- und Geschäftshäusern auf der anderen Straßenseite gibt es keine Verbindung. Dabei war die Straße zu DDR-Zeiten ein belebter Einkaufsboulevard, der sogar Menschen aus benachbarten Stadtteilen anzog. „Die Straße war immer voll, für uns Kinder war das total spannend“, erinnert sich Sebastian Thron, gebürtiger Schöneweider.
Tausende von Arbeitern strömten frühmorgens in die Fabrikhallen, und in den Mittagpausen bildeten sich lange Schlangen vor den Geschäften. Der Einbruch nach der Wende vollzog sich schleichend. Wer heute shoppen gehen will, fährt woanders hin, sagt Sebastian Thron: „Richtig einkaufen kann man hier nicht, das Angebot ist nicht gerade vielfältig.“
Den Aufschwung hat man schon des Öfteren prophezeit. Wirklich geändert hat sich wenig, wie auch Bezirksbürgermeister Oliver Igel (SPD) einräumen muss: „Die Straße präsentiert sich derzeit sicher nicht so, wie man sich das für einen Boulevard wünschen würde.“ Während der Wohnungsleerstand in den letzten Jahren komplett beseitigt werden konnte, sind immer noch viele Gewerberäume im Erdgeschoss verwaist. Doch der Leerstand sei gar nicht das Hauptproblem, meint der Bezirksbürgermeister, der auch für die Wirtschaftsförderung zuständig ist. Es fehle einfach eine attraktive Mischung. Doch allmählich mache sich der Zuzug der Studenten bemerkbar. „Am Anfang konnte man die Bürgersteige hochklappen, wenn in der HTW Schluss war, weil alle gleich nach Hause gefahren sind“, sagt Igel. Inzwischen wohnen einige auch hier, in einem der neu gebauten Studentenwohnheime oder auch in normalen Mietwohnungen. Läden wie ein Vintage-Möbelgeschäft, das Kran-Café oder der Burgerladen im Pförtnerhäuschen der Rathenau-Hallen seien jedenfalls vor 10 oder 15 Jahren undenkbar gewesen.
An der Mischung fehlt‘s
Wer sich unter den Geschäftsleuten umhört, bekommt dagegen erstaunlich oft zu hören, dass man kaum von den Studierenden profitierte. „Die steigen aus der S-Bahn und setzen sich in die Tram, die kommen gar nicht bei uns vorbei“, sagt Dirk Sarnoch von der Buchhandlung Peak. Buchläden haben allgemein keinen einfachen Stand, schon gar nicht in Oberschöneweide. „Wir schlagen uns so durch“, erklärt Sarnoch. Spezialisiert hat er sich auf Reiseführer und Landkarten. Er setzt auf kompetente Beratung und wühlt sich für seine Kunden unermüdlich durch Stapel von Karten, ganz gleich, wie ausgefallen das Ziel sein mag. Direkt nebenan, durch eine offene Glastür getrennt, befindet sich ein Outdoor-Ausrüster. „Wir sind sozusagen eine Symbiose eingegangen, auch das hilft, um überleben zu können“, sagt Sarnoch.
Am anderen Ende der Wilhelminenhofstraße, direkt gegenüber dem Eingang zum Campus der HTW, gibt es seit 2012 das Fahrradgeschäft „Bike Pirat“. „Studenten kommen hier Gott sei Dank nicht so viele rein“, sagt Inhaber Marcus Mehrling genervt. „Die wollen nichts ausgeben und stundenlang beraten werden, außerdem wissen sie alles besser.“ Man verkaufe viel über das Internet, zunehmend kommen seine Kunden aber auch aus dem Kiez. Fahrradfahren ist in, und allzu viele Fahrradläden gibt es nicht im Südosten der Stadt. „Der Wandel vollziehe sich zwar langsamer als etwa im Prenzlauer Berg, doch er ist zu spüren“, meint Mehrling.
Das Problem sei nicht der Leerstand, meint die Inhaberin eines Woll- und Kurzwarengeschäfts, sondern dass an jeden vermietet werde: „Es fehlt ein gutes Restaurant und ein schönes Café, wo ich mit meiner Freundin mal ein Glas Wein trinken und wo ich mich als Frau wohl fühlen kann.“
Doch es gibt Menschen, die an das Potenzial der Straße glauben. So hat sich unlängst eine Initiative von Geschäftsleuten gegründet, die die Straße beleben und dabei bewusst an die Vergangenheit als Industriestandort anknüpfen will. Ein Straßenfest mit Elektrofahrzeugen ist in Vorbereitung, vor den teilnehmenden Geschäften und Ateliers soll „Boxenstopp“ sein. Für das gleichnamige Konzept gab es unlängst einen Preis der Zentren-Initiative „Mittendrin Berlin“.
Sebastian Thron, der sich in mehreren Kiezvereinen engagiert, glaubt, dass die „lieblos durchgeführte“ Sanierung nach der Wende der Straße viel von ihrem Charme genommen hat. Das besondere Flair sei dadurch verloren gegangen: „Für mich ist es eine Straße, die noch nicht weiß, wo sie hinwill.“
Birgit Leiß
Von der Maloche zur Kunst
Das Industrieareal Schöneweide zählt zu den größten Industriedenkmälern Europas. Sein Aufstieg begann 1897, als die von Emil Rathenau gegründete „Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft“ (AEG) von der Innenstadt an das damals noch unbebaute Spreeufer zog und in der Wilhelminenhofstraße ein langgestrecktes Band von Werksanlagen errichtete. In der Folgezeit siedelten sich zahlreiche Unternehmen der Elektro-Großindustrie an, darunter das „Kabelwerk Oberspree“, die „Akkumulatorenwerke Oberschöneweide“, die „Deutschen Nileswerke“ und die „Nationale Automobilgesellschaft“.
Damit entwickelte sich der Standort zu einem wichtigen Zentrum der Elektroindustrie Berlins. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konzentrierten sich hier die führenden Betriebe der elektrotechnischen und elektronischen Industrie, wie das Kabelwerk Oberspree (KWO), das Transformatorenwerk Oberspree (TRO) und das Werk für Fernsehelektronik (WF). Nach der Wende wurde Schöneweide erst Sanierungsgebiet, dann Quartiersmanagement-Gebiet. Aktuell wird der Erlass einer Milieuschutzsatzung geprüft. Seit einigen Jahren ziehen zunehmend Künstler und „Raumpioniere“ in die stillgelegten, denkmalgeschützten Werkshallen.
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Ausstellungen, Führungen und andere Veranstaltungen zur Geschichte des Industriestandorts:
Industriesalon Schöneweide, Reinbeckstraße 9,
Tel. 53.00.70.42
info@industriesalon.de
www.industriesalon.de
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24.03.2017