Die Kantstraße ist eine Straße der Gegensätze. Auf 2,3 Kilometern stehen vornehme Stuckaltbauten neben einfachsten Wohnsilos aus der Nachkriegszeit. Straßencafés mit Pariser Flair wechseln sich ab mit schummrigen Rotlichtkneipen, und mittendrin finden sich Institutionen aus dem West-Berliner Nachtleben wie das Schwarze Café oder die Paris Bar. Vor allem aber ist die „Kantonstraße“, wie sie innerhalb der chinesischen Community genannt wird, eine der internationalsten Straßen Berlins.
Auf die Frage, was das Besondere der Kantstraße ist, muss Soner Gözüdok nicht lange überlegen. „Die Vielfalt“, meint der Betreiber eines Feinkostgeschäfts an der Ecke Bleibtreustraße. „Es gibt hier einfach alles. Aber das werden Sie selber sehen, wenn Sie hier lang laufen“, empfiehlt der freundliche junge Mann. Auch die Inhaberin von „Heidis Spielzeugladen“ rühmt die bunte Mischung: „Hier leben noch Jung und Alt, Arm und Reich, Intellektuelle und Arbeiter nebeneinander.“ Ihre Mitarbeiterin, die in der Straße wohnt, weiß vor allem die gute Nachbarschaft zu schätzen. „Bei uns im Haus kennt jeder jeden, das ist in Berlin nicht selbstverständlich.“ Im Straßenbild fällt zunächst auf, dass hier – anders als in den Szenevierteln von Prenzlauer Berg oder Friedrichshain – noch viele ältere Menschen unterwegs sind. „Charlottenburg war noch nie hip, sondern immer schon ein bisschen altbacken und verschlafen“, meint Andreas Tonsor, dessen Laden für Farben und Raumgestaltung seit 1899 in Familienbesitz ist. Solche Traditionsfachgeschäfte haben sich hier in erstaunlicher Anzahl gehalten. Während beispielsweise Eisenwarenläden anderswo längst verschwunden sind, kann man bei „Eisenwaren Adolph“ am Savignyplatz immer noch Nägel und Schrauben einzeln kaufen – und das seit 1898.
Dabei ist die Kantstraße keine Flaniermeile. Es ist eine vielbefahrene Durchgangsstraße, die parallel zum Kudamm verläuft und vom Breitscheidplatz bis zur Suarezstraße führt. Während rund um den Savignyplatz ein Hauch von Bohème zu spüren ist, wirkt der hintere Abschnitt jenseits der Kaiser-Friedrich-Straße wesentlich trister. Einige Schaufenster scheinen aus der Zeit gefallen zu sein, doch dahinter verbergen sich wahre Unikate. „Parfum nach Gewicht – seit 1926“ steht auf dem altmodischen Firmenschild in der Kantstraße 106. Lutz Lehmann verkauft hier über 50 selbst hergestellte Düfte. Die Kundschaft kommt aus ganz Berlin, gerade weil man hier neben Neuschöpfungen auch noch altmodische Duftrichtungen wie Veilchen oder Maiglöckchen bekommt. „Die Kantstraße war immer schon Durchschnitt – weder Kudamm noch Arme-Leute-Gegend“, sagt der Inhaber.
Einstmals „Chicago in Charlottenburg“
Ein paar Häuser weiter befindet sich mit „Korsett Engelke“ ein anderes Urgestein. Hier gibt es keine erlesenen Dessous, sondern Miederwaren in Übergrößen. Der Verkaufsraum ist vollgestopft mit Kartons, auf exklusive Präsentation legt man hier ganz offensichtlich weniger Wert als auf große Auswahl und gute fachliche Beratung. Über mangelnde Kundschaft kann sich die Inhaberin indes nicht beklagen. Selbst das „KaDeWe“ schickt Fälle, bei denen das Kaufhaus nicht weiterhelfen kann, zu Korsett Engelke.
In den 1970er und 80er Jahren verband man mit der Kantstraße vor allem Rotlichtmilieu und Russen-Mafia. Die Gegend galt als „Chicago in Charlottenburg“, wo Schießereien, Bandenkriege und Zuhälterei fast an der Tagesordnung waren. Doch daneben gab es auch damals schon Orte wie die noble Paris Bar, wo sich Prominente und Künstler trafen, oder das rund um die Uhr geöffnete Schwarze Café. Generationen von Studenten diskutierten sich hier bis zum Frühstück die Köpfe heiß.
Nach dem Mauerfall folgte dann der Niedergang. Zahlreiche alteingesessene Läden mussten schließen, übernommen wurden sie von dubiosen Import-Export-Geschäften. „Das war eine ganz schreckliche Zeit, auch wir sind damals fast untergegangen“, erinnert sich Andreas Tonsor. Doch die Kantstraße hat sich wieder aufgerappelt. „Das ist vor allem der Nähe zum Kudamm zu verdanken – woanders wäre die Straße endgültig tot gewesen“, meint er. Sein Eindruck: Die Entwicklung verlaufe in Wellen und derzeit befinde sich die Kantstraße eben wieder im Aufschwung.
Fernöstliches Stelldichein
Dazu beigetragen hat, dass immer mehr Asiaten die Kantstraße für sich entdeckten. Die ersten Chinesen kamen Anfang des 20. Jahrhunderts. Es waren vor allem Studenten, die an der nahe gelegenen Technischen Universität eingeschrieben waren. Um sich ihr Studium zu finanzieren, machten sie nebenbei Läden und Restaurants auf. Bereits 1923 wurde in der Kantstraße 130 B das erste chinesische Restaurants Berlins eröffnet, das „Tsientin“. Doch nach der Jahrtausendwende setzte dann ein regelrechter Boom ein. 50 asiatische Läden und Restaurants gibt es mittlerweile – zu viele, wie einige finden. Vor allem die Gastronomie nehme überhand. Auf der anderen Seite kann man wohl nirgendwo sonst in Berlin so authentisch chinesisch essen wie hier. Zum 1. April 2009 vermeldete das Bezirksamt Charlottenburg gar die offizielle Umbenennung in „Kantonstraße“ – ein Aprilscherz. Ohnehin ist die Bezeichnung ebenso wie „Chinatown“ irreführend, denn es gibt eben auch vietnamesische Suppenküchen, eine iranische Buchhandlung, ein japanisches Manga-Geschäft und vieles mehr. Fest steht: Die Einwanderungsgeschichte hat die Kantstraße geprägt wie kaum eine andere. Hier wohnen und arbeiten mehr Menschen aus verschiedenen Nationen und Schichten als anderswo. Als „Boulevard der Einwanderer“ wurde die Kantstraße denn auch in den Medien tituliert. Es macht das besondere Flair der Straße aus, dass man hier auf 2,3 Kilometern eine Weltreise unternehmen kann.
Und wie wohnt man in der Kantstraße? Nur noch selten so wie Rita Preuss, die auf hochherrschaftlichen 200 Quadratmetern lebt, direkt an der Ecke Savignyplatz. Ihr Mietvertrag stammt aus dem Jahre 1946, sie ist eine der langjährigsten Mitglieder des Berliner Mietervereins. „Heute würde meine Wohnung wohl 3000 Euro und mehr kosten“, weiß die Künstlerin, die hier auch ihr Atelier hat. Die 92-Jährige ist mittlerweile die einzige Mieterin im Haus, in allen anderen Wohnungen hat sich eine Pension breit gemacht. „Natürlich ist auch meine Wohnung begehrt, aber ich kann doch mit 92 Jahren nicht mehr umziehen.“
Das 1898 erbaute Wohnhaus war im Krieg ausgebrannt. Rita Preuss‘ späterer Mann zog als allererster Mieter wieder ein und hat die Wohnung selber restauriert. Die wilden Zeiten der Kantstraße hat die Künstlerin hautnah miterlebt. „Hier war ja früher sehr viel los, vor allem das älteste Gewerbe der Welt hatte sich hier etabliert.“ Beim Friseur traf man schon mal die „Puffmutter mit ihren Damen“ und von ihrem Atelier konnte sie die Freier über den Hof gehen sehen. „Einige waren Opis, die mit einem Blumenstrauß gekommen waren“, amüsiert sich Rita Preuss. Im Vergleich dazu sei es heute sehr viel ruhiger und seriöser geworden. Nur eins ist geblieben: Die Kantstraße ist eine ganz besondere Straße mit ganz besonderen Menschen.
Birgit Leiß
Dampfer auf dem Savignyplatz?
Ein Großteil der Kantstraßen-Bebauung entstand um 1900 nach dem Hobrecht-Plan. Viele der Wohnhäuser im vorderen Teil der Straße waren Spekulationsobjekte, errichtet im Wilhelminischen Barock, schreibt Aro Kuhrt in seinem jüngst erschienen Buch „Eine Reise durch die Kantstraße“. Die Investoren hofften auf satte Gewinne, ähnlich wie am Kurfürstendamm. Doch der Plan ging nicht auf, die vornehmen Mieter waren ausgeblieben. Etliche der Gründerzeitbauten im vorderen Teil der Straße wurden im Krieg zerstört. Lediglich das Theater des Westens lässt die einstige Pracht erahnen. Bis in die 1930er Jahren war die Kantstraße neben Mitte das Zentrum jüdischen Lebens in Berlin. Es gab rund 55 Geschäfte mit jüdischen Inhabern, mehrere Synagogen und in der Bleibtreustraße sogar ein rituelles Badehaus. Für sein Buch hat der schreibende Taxifahrer Aro Kuhrt zahlreiche spannende und unbekannte Geschichten ausgegraben. Kaum einer weiß beispielsweise, dass ursprünglich ein Kanal quer über die Kantstraße gebaut werden sollte. Der 18 Kilometer Süd-West-Kanal mit einer Dampfer-Anlegestelle auf dem Savignyplatz sollte bis zum Wannsee führen.
bl
Zu bestellen für 10 Euro unter www.kantstrasse.de
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12.10.2016