Einst Vergnügungsmeile, später elegante Einkaufsstraße und heute quirliger Multikulti-Boulevard – die Müllerstraße hat sich ständig gewandelt. Vor allem rund um den Leopoldplatz pulsiert das urbane Leben. Doch die Probleme sind nicht zu übersehen. Die Zeiten, als hier Tausende auf dem „Kudamm des Nordens“ einkauften, sind lange vorbei. „Im Jahr 2011 musste sogar das Billigkaufhaus C&A aufgeben. Der Lack ist ab“, befand das Internetportal „Weddingweiser“.
„Wenn niemand damit anfängt, kommt diese Straße nicht hoch“, sagte sich Marianne Brück und eröffnete vor rund zehn Jahren in der Müllerstraße 146, direkt neben dem Rathaus, eine Kaffeerösterei. „Alle hatten mich davor gewarnt“, erzählt sie. Heute ist das kleine Café fast immer voll, und trotz Verkehrslärm ist an den Tischen draußen oft kein Stuhl frei. Arabische Großfamilien sitzen neben gepflegten älteren Damen und hippen jungen Leuten. Die ersten Jahre seien hart gewesen, räumt die Inhaberin ein. Aber dann habe sich die gute Qualität herumgesprochen. Das Internet ist voll mit Lobpreisungen über „Berlins besten Espresso“, den es hier angeblich geben soll. „Wir rösten täglich frisch, und das schmeckt man“, sagt die Chefin.
Zur Stammkundschaft gehören viele Rathausangestellte, manche treffen sich auch nach dem Ruhestand einmal in der Woche hier. Marianne Brück hat auch festgestellt, dass Nordafrikaner, von denen es viele in der Nachbarschaft gibt, einen guten Kaffee zu schätzen wissen. Überhaupt sei das Publikum wesentlich gemischter als in der Filiale am Kollwitzplatz.
Wer die Müllerstraße entlangläuft, wird schnell feststellen, dass sie völlig unterschiedliche Gesichter hat. Als Hauptschlagader des Wedding führt sie auf 3,5 Kilometern schnurgerade Richtung Flughafen Tegel und weiter ins nördliche Umland. Am südlichen Ende, wo früher die Mauer stand, wirkt sie unwirtlich. Kriegszerstörungen und Teilung haben hier ihre Spuren hinterlassen. Je näher man dem Leopoldplatz kommt, desto quirliger wird das Straßenleben. Hier ist das Epizentrum der Geschäftsstraße, türkische Gemüseläden wechseln sich ab mit Asia-Supermärkten, Imbissen und Drogerien. Mit Karstadt und der Modekette H & M gibt es zudem zwei wichtige Zugpferde des Handels. Jenseits der Seestraße wird es dann wesentlich ruhiger, hier stehen etliche Läden leer.
Erfolgsgeschichten wie die der Kaffeerösterei können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stimmung bei vielen Gewerbetreibenden schlecht ist. Die größten Probleme: mangelnde Kaufkraft und ein wenig attraktives Umfeld. „Schauen Sie sich doch um: Ungepflegt und schmuddelig sieht es hier aus!“, meint die Inhaberin eines Brautmodengeschäftes. Seit 1992 betreibt sie „Happy Day Brautmoden“, mittlerweile kämpft sie um ihre Existenz. Früher, so erzählt sie, gab es hier viele Fachgeschäfte. Herrenausstatter, Trachtenboutique, Pelzmodengeschäfte – sie alle haben mittlerweile zugemacht. An ihre Stelle traten Dönerläden und Spielhallen.
Spielhalle statt Pelzhändler
Auch Turhan Cem wartet in seinem Gardinenhaus meist vergeblich auf Kundschaft. Überleben kann er nur, weil es ein Familienbetrieb ist. Frau, Tochter und Schwiegersohn packen mit an. Angestellte kann er sich nicht leisten, zumal er fast 2000 Euro Miete aufbringen muss. „Leider haben die jungen Leute ja gar keine Gardinen mehr an den Fenstern“, seufzt der Berliner mit türkischen Wurzeln. Er habe sich eben die falsche Branche ausgesucht. „Hätte ich einen Döner-Imbiss aufgemacht, wäre ich jetzt ein reicher Mann“, meint Turhan Cem.
Eines der wenigen alteingesessenen Fachgeschäfte konnte sich in der Nummer 70 b halten. Bereits seit 1964 werden hier Stoffe, Tapeten und Bodenbeläge verkauft. Raumausstatter-Meisterin Silke Schön, die den Laden 1999 von ihrem Vater übernommen hat, setzt auf professionelle Beratung und einen Rundum-Service, der von Einrichtungstipps über das Nähen von Vorhängen bis hin zum Montieren und Verlegen geht. Laufkundschaft gibt es hier am ruhigen nördlichen Teil der Straße weniger, dafür fahren viele Autofahrer auf dem Nachhauseweg hier vorbei. „Ich habe viele Kunden aus dem Umland, die mich auf der Durchfahrt entdeckt haben“, erzählt sie. Über die Miethöhe kann sie – im Gegensatz zu vielen anderen Geschäftsleuten – nicht klagen, ihr Vermieter ist die städtische Wohnungsbaugesellschaft Degewo. Sehr viel mehr macht ihr das wenig einladende Umfeld zu schaffen. Es gebe kaum schön dekorierte Schaufenster und viel zu viele Spielhallen und ungepflegte Hauseingänge. Ihr Eindruck: „In den Seitenstraßen hat sich etwas entwickelt, aber in der Müllerstraße selber geht doch niemand bummeln.“
Die 1960er Jahre, als sich Silke Schöns Vater hier ansiedelte, waren die Glanzzeiten der Müllerstraße. Fachgeschäfte mit klangvollen Namen und mehrere große Warenhäuser machten sie zu einer beliebten Einkaufsadresse. Mit dem Niedergang der Industrie und dem Zuzug einkommensschwacher Bevölkerungsschichten begann der langsame Abstieg. Nach dem Mauerfall wurde zudem immer mehr Kaufkraft von den neu entstandenen großen Einkaufscentern abgezogen. Der absolute Tiefpunkt war zweifelsohne 2011 erreicht, als nicht nur C & A, sondern auch die legendäre Müllerhalle schließen musste – ein Schock für den Kiez. In der Müllerhalle gab es einfach alles: Fischgeschäft, Schuhmacher, Drogerie und Fleischer. Hier erledigte man nicht nur seine Einkäufe, sondern traf auch Nachbarn und tauschte die neuesten Infos aus.
Das Ende der Müllerhalle
Um dem entgegenzusteuern wurde 2011 über das Bund-Länder-Programm „Aktive Stadtzentren“ ein Geschäftsstraßenmanagement eingesetzt. Ziel ist es, die Müllerstraße wieder attraktiver zu machen. So wurde der Leopoldplatz umgestaltet und eine Bibliothek neu gebaut. Außerdem sollen die Gewerbetreibenden unterstützt werden, beispielsweise durch Kurse zur Schaufenstergestaltung. Zum Zentrumskonzept gehört es auch, bei Neuvermietungen auf die Eigentümer einzuwirken. „Wir haben keine direkten Eingriffsmöglichkeiten, aber wir versuchen, die Vermieter zu sensibilisieren“, so Geschäftsstraßenmanager Winfried Pichierri. Schließlich tragen diese eine Verantwortung für die Branchenstruktur. Das Bündel von Maßnahmen habe bereits zu spürbaren Veränderungen geführt, findet Pichierri. Untrügliches Indiz für den Aufwärtstrend: die Eröffnung eines Bio-Discounters.
„Wedding ist jünger, cooler und attraktiver geworden“, sagt auch Taner Menekse: „Es gibt jetzt viel mehr nette Cafés, wo ich mich reinsetze oder mit Freunden treffe.“ Der gebürtige Weddinger, der in der Beratungsstelle des Mietervereins in der Müllerstraße arbeitet, ist vor ein paar Jahren in den Altbezirk Mitte gezogen. Doch der Wedding fehlt ihm. „Klar, hier zu wohnen war schon krass.“ Manchmal habe er sich mitten im Kriegsgebiet oder auf einem Drogenumschlagplatz gefühlt. „Es gibt hier jede Menge Leute, die komische Dinge tun, und das ist manchmal anstrengend“, sagt der junge Mann mit türkischen Wurzeln. Aber hier lebt die Stadt. „Die Müllerstraße ist für mich Leben pur.“
Birgit Leiß
Straße der Windmühlen
Ihren Namen verdankt die um 1800 angelegte Müllerstraße nicht etwa einer Person namens Müller, sondern ihrer Vergangenheit als Berlins größter Mühlenstandort. Rund 25 Mühlen drehten sich hier um 1840. 1880 stellte die letzte ihren Betrieb ein. An ihrer Stelle siedelten sich immer mehr Fabriken an, angefangen von Schering über Maschinenbaubetriebe bis hin zur größten Bäckerei Europas an der Müller-, Ecke Utrechter Straße. Allerdings endete der Boom am Leopoldplatz. Die einsetzende Wohnbebauung war ebenfalls zunächst auf den südlichen Teil der Straße beschränkt. Ein Grund dafür war die übel riechende städtische Abdeckerei. Erst 1908 wurde sie geschlossen. Zu dieser Zeit hatte sich die untere Müllerstraße bereits zur Vergnügungsmeile mit zahlreichen Tanzlokalen, Gaststätten und Theatern entwickelt. Bis in die 1960er Jahre hinein galt die Müllerstraße zudem als wichtiger Kinostandort.
Im Zweiten Weltkrieg wurde vor allem der südliche Abschnitt mit seinen zahlreichen Rüstungsbetrieben durch Bomben zerstört. Der nördliche Teil blieb weitgehend verschont. Hier, im sogenannten „besseren Wedding“, waren in den 1920er und 1930er Jahren architektonische Glanzlichter entstanden, darunter Bruno Tauts Schillerparksiedlung – heute UNESCO-Weltkulturerbe – sowie die auffälligen „Wohnkuben“ von Mies van der Rohe an der Ecke Afrikanische Straße.
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23.12.2018