Weißensee erfreut sich bei Familien zunehmender Beliebtheit. Das bringt nicht nur frischen Wind in die Berliner Allee, die wichtigste Einkaufsstraße im Nordosten, sondern sorgt auch für rasant steigende Gewerbemieten. Fast alle Geschäftsleute ächzen unter der hohen Mietbelastung. Der eine oder andere Alteingesessene musste bereits weichen.
Das Schild „Fleischerei Oppen seit 1779“ hängt noch über dem leerstehenden Laden in der Berliner Allee 45. Ende April 2018 musste das Fachgeschäft, angeblich eine der ältesten Fleischereien Berlins, schließen. Nach dem Verkauf des Hauses war die Miete zuerst von 1100 Euro auf 3000 Euro geklettert. Als dann der Vertrag auslief und eine noch höhere Miete gefordert wurde, zog Jörg Oppen einen Schlussstrich. Doch zuvor hatte er für das Familienunternehmen in siebter Generation ein zweites Standbein geschaffen.
In Konnopke’s Diner, direkt gegenüber an der Ecke Mahlerstraße, verkauft er nun deftige Hausmannkost, von Sülze über Schnitzel bis zum Eisbein. Den Imbiss hatte er 2011 vom Gründer der legendären Currywurst-Dynastie gekauft. In dem im amerikanischen Diner-Stil eingerichteten Imbiss frühstücken frühmorgens die Bauarbeiter, und mittags kommen Anwohner zum preiswerten Mittagstisch. Partyvolk und Touristen sucht man hier vergebens. Doch Jörg Oppen hat auch eine Mission. Der gelernte Fleischermeister will gute alte Handwerkskunst vermitteln, und so gibt es im Raum eine Art gläserne Currywurst-Manufaktur, in der Kunden und Kitabesuchsgruppen die Wurstherstellung live verfolgen können.
Familien stehen im Fokus
Auf den ersten Blick ist die 3,5 Kilometer lange Berliner Allee eine lärmige Ausfallstraße mit schmalen Gehwegen und einem enormen Verkehrsaufkommen. Wagen um Wagen wälzt sich Richtung Autobahn, mitten drin rumpelt die Tram. Auffällig viele Läden sind verwaist. Der Leerstand sei ein großes Problem, trotz der insgesamt positiven Entwicklung, lautet die Einschätzung von Bodo Hildebrandt und Kai-Uwe Agatsy vom Vorstand der IG City Weißensee. Entstanden sei er häufig durch überdurchschnittlich gestiegene Mietforderungen. Helfen könne ein Gewerbemietspiegel.
Um die Attraktivität der Einkaufsstraße zu erhöhen, organisiert die IG zudem seit vielen Jahren Aktionen wie den Weihnachtsmarkt auf dem Antonplatz oder die Weihnachtsbeleuchtung. „Die Allee hat großes Potenzial“, ist Agatsy überzeugt. Insbesondere der Zuzug in den letzten Jahren bietet große Chancen. Kürzlich hat ein Kinderschuhladen eröffnet, außerdem ein Keramikmalstudio mit Töpferkursen für Kinder und Erwachsene.
Die Zielgruppe Familie hat auch Alina Kramer im Visier. In ihrem Schneideratelier „La mano“ verkauft sie seit 2013 selbstgefertigte Kinderkleidung, Stoffe, Handytaschen, Kissenbezüge und vieles mehr. Außerdem führt sie – stets gut gebuchte – Nähkurse für Kinder ab acht Jahren durch. Bedingung: nur ohne Eltern. „Die stören nur“, erklärt die gelernte Lederschneidermeisterin Kramer.
Ladenbesitzer mit Herzblut
Was die Einkaufsstraße zu etwas Besonderem macht, sind die vielen inhabergeführten Läden, in denen Menschen mit Herzblut hinter der Theke stehen. Bei Fahrrad Otto in der Nummer 57 beispielsweise nimmt man nicht für jedes Schräubchen Geld. Man fachsimpelt mit Fahrradfreaks und nimmt sich viel Zeit für persönliche Beratung. „Wir Kiezläden müssen zusammenhalten, damit wir überleben“, findet Inhaber Erik Wolle. 2700 Euro kostet der rund 120 Quadratmeter große Laden an Miete. Ein stolzer Preis und gerade so zu stemmen. Der Umsatz läuft mittlerweile überwiegend über Reparaturen, gekauft wird im Internet. „Die vermeintlichen Schnäppchen dürfen wir dann reparieren“, seufzt der gelernte Fahrradmonteur. Als er den Laden nach der Wende übernommen hat, sei das noch ganz anders gewesen, da habe man viel mehr Räder verkauft. Er schätzt vor allem den dörflichen Charakter der Berliner Allee. „Man kennt sich, das ist nicht so anonym wie in anderen Einkaufsstraßen.“
Das gilt nicht nur für die Kundschaft, sondern auch für die Gewerbetreibenden untereinander. Man weiß, wer gerade in Urlaub ist und drückt sich gegenseitig den Schlüssel für den Laden in die Hand, wenn man mal kurz weg muss. Eine, die die Fäden zusammenhält, ist Ricarda Strehlow. Die quirlige Rothaarige fand Weißensee schon immer toll: „Wir haben hier auf gerade mal zwei Kilometern ein Kino, einen See, ein Kulturhaus und zwei Buchläden, die Straßenbahn hält alle zwei Minuten und in zehn Minuten ist man am Alex – wo in Berlin gibt’s das sonst noch?“
Vor zehn Jahren hat sie in der Berliner Allee 88 ihr Feinkostgeschäft „Fassgold“ eröffnet. Vorher, so erzählt sie, hatte sie einen „furchtbaren Job bei der Bank“. Heute verkauft sie all die guten Dinge, an denen sie selber Freude hat: zig Sorten Whisky, handgemachte Marmeladen aus dem Spreewald, Kürbiskernöl aus der Steiermark, ausgesuchte Weine, Kaffee und Rhabarberlikör, außerdem schönes Geschirr und Tischwäsche aus Skandinavien. Die Öle, Essige und Spirituosen gibt es alle zum Selberabfüllen. Längst hat sie ihre Stammkundschaft und die abendlichen Whisky- und Ginverkostungen sind regelmäßig ausgebucht. „Weißensee ist in Bewegung, da kommt Leben rein“, meint Ricarda Strehlow: „Leider explodieren gerade die Gewerbemieten, ich hoffe, dass die Eigentümer sich noch besinnen, es geht nicht nur um Profit.“ Fast alle Kunden kennt die Chefin mit Namen, und fast alle werden geduzt. „Hier in der Straße schicken wir uns sogar gegenseitig die Kunden, es gibt kaum Konkurrenzdenken und das finden die Leute sympathisch“, sagt die Geschäftsfrau.
In der Albertinen-Buchhandlung wird den Kunden mitunter sogar empfohlen, sich das Buch doch in der Bücherei auszuleihen. Auch hier ist die Atmosphäre persönlich. Gerade schaut eine ehemalige Lehrerin zum Plauschen vorbei. „Dieser Laden ist einfach Gold wert“, meint eine ältere Dame mit Gehhilfe, die sich gerade ihr Buch über jüdische Miniaturen abholt.
Die Inhaberin Manuela Wiggert hatte sie bereits angerufen, weil sie sich gewundert hatte, dass das Buch noch da lag. Hier sei es ein bisschen wie im Dorf, man trifft sich beim Sport oder in der Kneipe, erzählt Wiggert. „Wir haben sehr viel Glück mit unseren Kunden, die recherchieren im Internet, kaufen aber bewusst hier“. Weil es rundherum viele Kinder gibt, ist die Kinderbuchabteilung besonders groß.Auch mehrere umliegende Schulen bestellen hier. Dazu kommt ein langfristiger Mietvertrag mit akzeptabler Miete – und schon kann ein engagierter, kleiner Buchladen gegen den Internetriesen bestehen.
Birgit Leiß
Honeckers Arbeitsweg
Die Berliner Allee, die heute Teil der Bundesstraße 2 ist, wurde bereits im Mittelalter als bedeutender Teil einer Fernhandelsroute angelegt. Der südwestliche Abschnitt hieß zuerst Königschaussee, später wurde sie mit der Berliner Straße zur Berliner Allee zusammengelegt. 1953 wurde sie nach dem tschechoslowakischen Politiker in Klement-Gottwald-Allee umbenannt. Erst 1991 erfolgte die Rückbenennung. In der Allee gibt es nicht nur eines der ältesten Berliner Kinos, das „Toni“ am Antonplatz, sondern auch zahlreiche andere denkmalgeschützte Bauten, etwa die Apotheke in der Nummer 109 oder das zweistöckige Wohnhaus von Bertolt Brecht und Helene Weigel mit der Nummer 158, ganz in der Nähe des Weißen Sees. Auch Industrie- und Gewerbebauten wie die Sternecker Brauerei in der Nummer 123 sind bis heute erhalten. Als Einkaufsstraße war die Berliner Allee schon zu DDR-Zeiten sehr beliebt, verlief hier doch Honeckers Wegstrecke von Wandlitz in die Innenstadt.
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29.10.2018