Die Einkommensgrenzen für den Wohnberechtigungsschein (WBS) sind im Wohnraumförderungsgesetz bundeseinheitlich festgelegt. So darf ein Singlehaushalt bis zu 12.000 Euro im Jahr verdienen, für zwei Erwachsene mit einem Kind liegt die Grenze bei 22.600 Euro. Sozialmieter, deren Einkommen während der Mietzeit diese Grenzen überschreiten, zum Beispiel durch einen beruflichen Aufstieg, müssen zusätzlich zur Miete eine sogenannte Fehlbelegungsabgabe zahlen. Damit soll gewährleistet werden, dass nur die wirklich Bedürftigen in den Genuss der günstigen Wohnungen kommen.
Im Laufe der Jahrzehnte ist Berlin aber an mehreren Stellen von den bundeseinheitlichen Regelungen abgewichen. Um eine soziale Durchmischung in den Sozialwohnungsbeständen zu erreichen beziehungsweise eine Ghettobildung zu vermeiden, wurde der Zugang für Wohnungssuchende weit geöffnet und die Bindung zum großen Teil außer Kraft gesetzt. Besonders die Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre – nahezu komplett im Sozialen Wohnungsbau errichtet – waren auf dem Weg, soziale Brennpunkte zu werden. Von Menschen mit höheren Einkommen versprach man sich eine stabilisierende Wirkung, deshalb wollte man ihnen den Zuzug beziehungsweise das Bleiben erleichtern.
Ab 1998 hatte der Senat immer mehr Sozialwohnungen von der Belegungsbindung befreit, das heißt, die Wohnungen konnten von jedermann ohne WBS und Einkommensnachweis bezogen werden. Zunächst betraf das nur bestimmte Siedlungen, zuletzt fast den gesamten Sozialwohnungsbestand. Für die wenigen Fälle, in denen noch ein WBS benötigt wurde, hat das Land Berlin im Jahr 2006 die Einkommensgrenzen pauschal um 40 Prozent erhöht. Der Einpersonenhaushalt kann also bis 16.800 Euro im Jahr verdienen, die Familie mit einem Kind bis zu 31.640 Euro. Diese Regelung ist vorerst bis Ende 2013 befristet.
Eine Fehlbelegungsabgabe wird in Berlin überhaupt nicht mehr erhoben. Die Fehlbelegung war lange Zeit ein großes Problem. Obwohl eine 20-prozentige Überschreitung der Einkommensgrenzen toleriert wurde, war bundesweit von Mitte der 60er Jahre bis Anfang der 80er Jahre durchgängig ein Viertel bis ein Drittel der Sozialmieter Fehlbeleger. Ein großer Teil der Wohnungsbauinvestitionen hatte also nicht diejenigen erreicht, für die sie gedacht waren. Auf die Fehlbeleger wirkte die Abgabe wie eine Strafzahlung, und nicht wenige begriffen sie als Aufforderung auszuziehen. Die soziale Entmischung in den Wohnanlagen ist damit beschleunigt worden. Deshalb wurde zunächst in einigen Großsiedlungen, ab 2002 in ganz Berlin auf die Fehlbelegungsabgabe verzichtet.
Ob das Sozialgefüge durch diese Maßnahmen tatsächlich ausgewogener und stabiler gehalten werden konnte, ist fraglich. Eine Erfolgskontrolle fand nie statt. Der Berliner Mieterverein warnte 2001: „Bei der nächsten Marktanspannung wird sich der Verzicht auf Bindungen bitter rächen.“ Dies ist nun eingetreten.
Mit der Lockerung des Zugangs haben die Geringverdiener bei der Wohnungssuche mehr Konkurrenz bekommen. So hat die Ausweitung der WBS-Einkommensgrenzen dazu geführt, dass rund 60 Prozent aller Berliner Haushalte eine Sozialwohnung beziehen dürfen. In den gefragteren Stadtteilen können Vermieter sich die Mieter aussuchen, und dabei bevorzugen sie meist Mietinteressenten mit einem besseren Einkommen. Die „wahren“ Geringverdiener, die auf den gebundenen Wohnungsbestand besonders angewiesen sind, haben dabei das Nachsehen.
„Aufgrund des aktuellen Wohnungsmarktes“ hat Stadtentwicklungssenator Michael Müller zum 1. Mai 2012 die Belegungsbindung für 65.000 Sozialwohnungen wieder in Kraft gesetzt. Diese Wohnungen können jetzt nur noch mit einem WBS mit „besonderem Wohnbedarf“ (zuvor „Dringlichkeit“ genannt) angemietet werden. Weiterhin ausgenommen sind 35.000 Sozialwohnungen in 16 Siedlungen zur „Sicherung und Verbesserung des Sozialgefüges“, die 28.000 Sozialwohnungen, die von der Streichung der Anschlussförderung betroffen sind sowie Sozialwohnungen, die eine übergroße Wohnfläche haben und solche, die von den Bezirken einzeln freigestellt worden sind. Ob sich WBS-Mieter die neuerdings wieder belegungsgebundenen Wohnungen aber leisten können, steht auf einem anderen Blatt, denn das Preisniveau dieser Wohnungen unterscheidet sich kaum noch vom Berliner Durchschnitt auf dem freien Markt.
Vor dem Scherbenhaufen der Privatisierungspolitik
Gegen Ende der 90er Jahre hat sich Berlin aus der aktiven Wohnungspolitik verabschiedet. Neben der Einstellung des Sozialen Wohnungsbaus und dem Verzicht auf die Bindungen zeigt sich das besonders deutlich in der Privatisierung von städtischen Wohnungsbeständen. Allein mit den Komplettverkäufen der Wohnungsunternehmen Gehag und GSW gingen rund 90.000 Wohnungen, darunter viele Sozialwohnungen, in die Hände privater Unternehmen über. Damit hat der Senat sich selbst der Möglichkeit beraubt, regulierend in den Wohnungsmarkt einzugreifen und der Mietpreistreiberei Vorschub geleistet.
Das „Bündnis für soziale Wohnungspolitik und bezahlbare Mieten“, mit dem Senator Müller nun wieder über die sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften dämpfenden Einfluss auf die Mieten nehmen will, krankt daran, dass es nur für deren 277.000 Wohnungen gilt.
Um künftig wenigstens geringfügig mehr auf den Markt einwirken zu können, will die rot-schwarze Koalition den Bestand durch Zukäufe und Neubauten bis 2016 auf 300.000 ausweiten. Obwohl dies nur einem Zuwachs von weniger als 10 Prozent in vier Jahren entspricht, ist es ein Kraftakt, den man sich hätte sparen können, wenn man ein Jahrzehnt zuvor etwas vorausschauender auf den Ausverkauf verzichtet hätte.
MieterMagazin 1+2/13
Lesen Sie auch
zu diesem Thema:
Der Soziale Wohnungsbau
zwischen Ausstieg und Neuanfang
Mit Erfolg aus der Wohnungnot –
mit Leichtsinn in die nächste?
Architektur im Korsett
staatlicher Vorschriften
Überteuert gekauft, billig verramscht:
Berliner Dilettantismus
Politik am Notwendigen
und den Bedürftigen vorbei
Kein Konsens der Akteure auf dem Weg
in eine neue Förderung
Der Versuch, die Sozialbau-Siedlungen vor dem Abstieg zu retten, geht hauptsächlich auf Kosten derjenigen, die preiswerten Wohnraum brauchen
Fotos: Paul Glaser
Trotz gewisser Ähnlichkeiten: Die Plattenbauten Ost-Berlins sind kein Sozialer Wohnungsbau
Foto: Paul Glaser
Informationen zum WBS:
www.stadtentwicklung.berlin.de
Zum Thema
Plattenbau Ost – gefühlte Sozialwohnungen
Auch 85.000 Wohnungen im Ostteil Berlins – vor allem im Plattenbau – kann man nur mit einem WBS anmieten. Sie zählen aber nicht zum Sozialen Wohnungsbau. Die Belegungsbindungen wurden 1995 für Wohnungsbestände verordnet, die mit staatlicher Hilfe von Altschulden befreit worden sind. Ursprünglich betraf das 120.000 Wohnungen.
Von 2003 bis 2012 hatte der Senat die Bindungen ausgesetzt. Bei diesen sogenannten Belegungsbindungswohnungen genügt – anders als bei den Sozialwohnungen – ein WBS ohne besonderen Wohnbedarf. Rechtlich hat der Plattenbau aus DDR-Zeiten mit dem Sozialen Wohnungsbau nichts zu tun. Vor allem die mietrechtlichen Besonderheiten von Sozialwohnungen gelten hier nicht.
17.08.2013