Ein Kreuzberger Wohnhaus wird zu einem spekulativen Preis versteigert. Um zu verhindern, dass eine Luxusmodernisierung und die Umwandlung in Eigentumswohnungen folgen, schließen sich die Mieter zusammen. Ihre Chancen, zu bezahlbaren Mieten bleiben zu können, stehen gut, wenn das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg die Möglichkeiten des Milieuschutzes entschlossen nutzt. Eine Chronik des Mieterwiderstands.
9. November 2017:
Die Mieter des Hauses Eisenbahnstraße 2/3, Ecke Muskauer Straße 10 erfahren von der bevorstehenden Versteigerung ihres Hauses. Die Auktion ist keine Zwangsversteigerung. Die Erben des Besitzers haben sich freiwillig zu dieser Art des Verkaufs entschlossen. Das Mindestgebot beträgt 5,2 Millionen Euro.
Das 1898 erbaute Eckhaus hat 38 Mietwohnungen, in denen 99 Menschen wohnen, einige von ihnen schon seit Jahrzehnten. „Mein Großvater hatte früher die Bäckerei im Nachbarhaus, als Kind habe ich hier auf der Straße gespielt“, erzählt der 57-jährige Reinhard. Das Haus spiegelt die Kreuzberger Mischung im Kleinen wider. Hier wohnen Menschen mit griechischen, koreanischen, russischen, türkischen und italienischen Wurzeln – Richter, Ingenieure, Handwerker, Studierende, Künstler und Grafiker, Hartz-IV-Empfänger, Rentner, Alleinerziehende und Familien. Im Erdgeschoss gibt es außerdem sieben Läden und Handwerksbetriebe.
Das Haus ist nie grundlegend modernisiert worden, mehrere Wohnungen haben noch Ofenheizung. Die Nettokaltmieten liegen zwischen 2,11 und 7,48 Euro pro Quadratmeter. Den Mietern ist klar: Wer den Kaufpreis refinanzieren will, wird die Mieten kräftig anheben. Viele würden dadurch zum Auszug gezwungen. Der hier geltende Milieuschutz soll eine solche Verdrängung aber verhindern.
21. November 2017:
In einer Mieterversammlung informiert das Bezirksamt über die Möglichkeiten des Milieuschutzes. Bestimmte Modernisierungsmaßnahmen, die die Mieten besonders stark in die Höhe treiben, sind hier ebenso unzulässig wie die Umwandlung in Eigentumswohnungen. Außerdem kann das Bezirksamt das Vorkaufsrecht ausüben: Eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, eine Genossenschaft oder eine Stiftung kann bei einem Verkauf des Hauses als Erwerber in den Kaufvertrag eintreten. Die Mieter sind kämpferisch: „Die Wohnungen in unserem Mehrfamilienhaus sollen unser Zuhause bleiben“, sagt Mieterin Ania. „Wir möchten nicht verdrängt werden.“
25. November 2017:
Mit Spruchbändern stehen an diesem verregneten Morgen über 60 Bewohner auf der Kreuzung Eisenbahn-, Ecke Muskauer Straße. „3-2-10 – Wir halten zusammen“, wurde skandiert. Den Namen „3-2-10“ haben sich die Mieter in Anlehnung an die Hausnummern gegeben. Lara und Moritz, Eltern von drei Kindern, sagen: „Wir stehen für das, was Berlin ausmacht: familiär, vielfältig und kreativ.“
14. Dezember 2017:
In einem Hotel in der Lietzenburger Straße ruft der Auktionator die Position Nr. 26 auf: das Mietshaus Eisenbahn-, Ecke Muskauer Straße. Mit Protestplakaten tun die Mieter ihren Unmut kund. Am Ende geht das Haus an einen telefonischen Bieter, der anonym bleiben möchte. Er erhält für das Gebot von 7,16 Millionen Euro den Zuschlag. Baustadtrat Florian Schmidt kündigt an, die Ausübung des Vorkaufsrechts zu prüfen.
Der Kaufpreis liegt um 32 Prozent über dem vom Bezirk ermittelten Verkehrswert von 5,4 Millionen Euro. Bei einer solch erheblichen Überschreitung muss die öffentliche Hand im Falle des Vorkaufs nicht den spekulativen Verkaufspreis, sondern nur den Verkehrswert zahlen.
10. Januar 2018:
Dem Bezirksamt liegt nun der Kaufvertrag vor. Ab jetzt hat es zwei Monate Zeit, entweder das Vorkaufsrecht auszuüben oder mit dem Erwerber eine Abwendungsvereinbarung zu schließen. In einer solchen Vereinbarung würde sich dieser dazu verpflichten, über die normalen Milieuschutzregeln hinaus Beschränkungen bei Modernisierungen und Mieterhöhungen einzuhalten. Lässt er sich nicht darauf ein, steht die städtische Wohnungsbaugesellschaft WBM bereit, das Haus zu übernehmen. Die Frist läuft am 10. März ab. Wir werden weiter berichten.
Jens Sethmann
Senatskonzept zur Nutzung des Vorkaufsrechts:
https://www.stadtentwicklung.berlin.de/staedtebau/foerderprogramme/stadterneuerung/soziale_erhaltungsgebiete/vorkaufsrecht.shtml
03.05.2019