Viele Frauen werden im Laufe ihres Lebens Opfer häuslicher Gewalt. Häufig ist ein anonymes Leben im Frauenhaus die einzige Möglichkeit, der Gewaltsituation zu entkommen. Der Übergang zurück in ein eigenständiges Leben fällt den Betroffenen schwer – nicht zuletzt, weil sie besonders stark vom Fehlen bezahlbaren Mietraums betroffen sind. Ein neues senats-finanziertes Caritas-Projekt möchte das Anschlusswohnen erleichtern.
Maria* ist 25 Jahre alt und hat in diesen 25 Jahren schon viel erlebt. Ihre siebenjährige Tochter lebt bei ihrer Familie in ihrem Heimatland Iran*. Die zweite Tochter, ein Jahr alt, bekam sie mit einem deutschen Mann, den sie im Iran kennenlernte und heiratete. Mit ihm und der jüngeren Tochter zog Maria nach Deutschland. Dort begann ihr Martyrium. Ihr Mann wurde ihr gegenüber handgreiflich – einmal, zweimal, immer wieder. Lange ertrug Maria die Misshandlungen, alleine in einem fremden Land und mit einem kleinen Kind.
Als häusliche Gewalt bezeichnet man Gewalttaten zwischen Personen in einer bestehenden oder beendeten partnerschaftlichen Beziehung oder zwischen Angehörigen. Schätzungen zufolge erlebt in der EU jede sechste Frau in ihrem Leben häusliche Gewalt. Andere Quellen sprechen sogar davon, dass jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal Gewalt durch einen Partner oder Ex-Partner erfährt. Es ist nicht möglich, verlässliche Zahlen zu nennen – die Dunkelziffer ist hoch. Beratungsangebote, Aufklärungskampagnen und der in den 80er Jahren von Terre des Femmes und anderen Initiativen ins Leben gerufene Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November haben ihren Teil dazu beigetragen, das Thema ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und damit zumindest ein Stück weit zu enttabuisieren. So ist in den vergangenen Jahren die Zahl der Anzeigen gegen gewalttätige Partner gestiegen. Was zunächst alarmierend klingt, werten Experten eher positiv: Es gibt nicht unbedingt mehr Gewalttaten, wohl aber eine zunehmende Sensibilisierung für das Thema.
Dennoch werden immer noch viele Fälle nicht zur Anzeige gebracht – sei es aus Angst vor dem Partner, vor einem vermeintlichen Gesichtsverlust, dem Verlust des Lebensstandards oder aus der Hoffnung heraus, dass ein geliebter Mensch sich wieder „bessert“: Die Gründe, nicht zur Polizei zu gehen, sind vielfältig.
15.254 Fälle häuslicher Gewalt verzeichnet die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2014 in Berlin.
75 Prozent der Opfer waren Frauen. Bei mehr als der Hälfte der Taten handelt es sich um vorsätzliche Körperverletzung, aber auch Sexualdelikte, Vergewaltigungen und Tötungsdelikte tauchen in der Statistik auf. Häusliche Gewalt tritt in vielen Formen auf, darunter nicht nur physische: Auch Beschimpfungen und Demütigungen, Verbote, Morddrohungen, Stalking und Sachbeschädigung zählen beispielsweise dazu.
Maria schaffte es trotz der traumatisierenden Erlebnisse, sich aus der Gewaltsituation zu befreien: Sie floh mit ihrem Baby in ein Frauenhaus. Dort finden Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben, und ihre Kinder eine sichere Unterkunft. Die Adressen der Häuser unterliegen strengster Geheimhaltung, die Bewohnerinnen werden anonym geführt. So soll gewährleistet werden, dass kein gewalttätiger Angehöriger eine der Frauen aufspüren kann.
Mehr Frauen, die länger bleiben
Sechs Frauenhäuser in unterschiedlicher Trägerschaft mit insgesamt 322 Betten hat Berlin. Die Auslastung liegt seit Jahren konstant bei über 90 Prozent. Mitarbeiterinnen der Einrichtungen beklagen, es stünden zu wenige Plätze zur Verfügung, sie müssten immer wieder Frauen in akuten Notsituationen abweisen. Ein Super-GAU für betroffene Frauen, denen dann häufig nur der Weg zurück in eine gewalttätige Partnerschaft bleibt. Der Senat weist Forderungen nach mehr Mittel dennoch zurück und erklärt, man habe die Ausgaben für Hilfeangebote für von Gewalt betroffene Frauen von 6,8 Millionen Euro im Jahr 2015 auf jeweils 7,4 Millionen Euro im laufenden und kommenden Jahr erhöht.
Ina van Lengen, die im Frauenhaus der Caritas gearbeitet hat, weiß: „Das Problem ist die steigende Verweildauer in den Frauenhäusern, die eigentlich für akute Notfälle gedacht sind.“ Es gebe immer mehr Frauen, die ein halbes Jahr, aber auch bis zu drei Jahren in den Frauenhäusern lebten. Denn für viele stellt der Übergang in ein selbstbestimmtes Leben, in eine eigene Wohnung, ein unüberbrückbares Hindernis dar. „Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben, sind häufig auf Sozialleistungen angewiesen. Sie müssen sich eine Wohnung im unteren Preissegment suchen und sind hier besonders vom Fehlen solcher bezahlbaren Mietwohnungen betroffen.“
Abhilfe schaffen will ein neues Projekt, das Senat und Caritas gemeinsam angestoßen haben. „NeuRaum – Wohnen nach dem Frauenhaus“ richtet sich gezielt an Frauen mit oder ohne Kinder, die nach einer ersten Stabilisierung im Frauenhaus nicht wieder zurück in ihre Wohnung können. Zwar muss derjenige, der eine Gewalttat ausübt, laut Gewaltschutzgesetz die gemeinsam genutzte Wohnung verlassen. In der Praxis scheitert dies aber häufig daran, dass das Opfer der Gewalttat nicht in die alte Umgebung zurückkehren will – auch, weil es sich dadurch auffindbar macht.
22 Ein- bis Vierzimmerwohnungen will NeuRaum bis Ende 2016 zur Verfügung stellen, zehn davon sind bereits bezogen. „Die Wohnungen befinden sich über die ganze Stadt verteilt in ganz normalen Mietshäusern“, sagt Ina van Lengen, die NeuRaum gemeinsam mit ihren beiden Kolleginnen Ilon Fehring und Sibylle Wenk betreut. Die Caritas hat dazu mit Privateigentümern und mit der Deutsche Wohnen AG Mietverträge für bezahlbaren Wohnraum ausgehandelt. Die Nachfrage ist hoch: Über 30 Anfragen gibt es bereits. Für die Vermittlung in die Wohnungen arbeitet NeuRaum eng mit den Sozialpädagoginnen der Frauenhäuser zusammen. Eine Voraussetzung ist, dass eine Frau ihre Miete bezahlen kann oder diese vom zuständigen Amt übernommen wird. „Zum anderen nehmen wir mit der Frau eine Gefährdungsanalyse vor: Wir stellen fest, ob sie tatsächlich schon so weit ist, alleine wohnen zu können“, so van Lengen. Denn anders als die sogenannten Zufluchtswohnungen – ebenfalls als Anschlusswohnungen konzipierte Wohngemeinschaften, von denen es berlinweit 41 gibt und deren Lage wie die der Frauenhäuser strenger Geheimhaltung unterliegt – sind die NeuRaum-Wohnungen weder geschützt noch anonym. „Die Frauen bringen ihren Namen am Klingelschild an und sind damit ganz normale Mieterinnen, dadurch aber eben auch als solche auffindbar“, sagt van Lengen.
Neben der Unterbringung bietet NeuRaum sozialpädagogische Beratung auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Denn: Viele Frauen haben neben oder durch die Gewalterfahrungen noch andere Probleme, sind arbeitslos, haben aufenthaltsrechtliche Schwierigkeiten oder wollen sich scheiden lassen. So auch Maria, die eine der ersten Projektteilnehmerinnen ist.
Breite Unterstützung für ein selbstständiges Leben
Sie hat Schulden, deren Ursache nicht ganz klar ist. „Maria nimmt an, dass ihr Mann mit ihrer Kreditkarte Internetbestellungen vorgenommen hat“, erklärt Ina van Lengen. Hinzu kommt ein Sorgerechtsstreit um die Tochter. Nach einem Besuch bei ihrer Familie im Iran über Weihnachten wurde ihr von den Behörden die Rückreise nach Deutschland verweigert. Dadurch verpasste sie wichtige Jobcenter-Fristen. Das sind alles Situationen, in denen das Team von NeuRaum ihr unter die Arme griff. „Wir unterstützen die Frauen lediglich, bis sie wieder selbstbewusst und selbstständig sind und ein eigenständiges Leben führen können“, erklärt Ina van Lengen. Bestenfalls blieben die Frauen dauerhaft in den NeuRaum-Wohnungen wohnen und lösten sich nach und nach aus der Beratung. Für das Projekt würden dann wieder neue Wohnungen gesucht. „Maria ist trotz der Gewalt, die ihr widerfahren ist, unheimlich stark. Ich habe ein gutes Gefühl, dass sie es schafft, wieder ganz auf die Beine zu kommen“, sagt Ina van Lengen.
Katharina Buri
* Name und Herkunftsland von der Redaktion geändert
Was tun, wenn man häusliche Gewalt erfährt?
- Den Vorfall bei der Polizei anzeigen (Tel. 110). Die Polizei kann den Täter beispielsweise eine bestimmte Zeit aus der Wohnung verweisen, in Gewahrsam nehmen oder ein Kontaktverbot verhängen.
- Sich an eine Beratungshotline oder ein Frauenhaus wenden (Adressen siehe unten).
- Eine Person aus dem eigenen Umfeld ins Vertrauen ziehen.
- Jedes Detail protokollieren: Alle Gewaltakte aufschreiben, Verletzungen von einem Arzt attestieren lassen. Seit Anfang 2014 gibt es zudem die Möglichkeit, in der „Gewaltschutzambulanz“ der Charité Verletzungen kostenfrei rechtsmedizinisch untersuchen und dokumentieren lassen – unabhängig davon, ob man sich für oder gegen eine Anzeige bei der Polizei entscheidet.
Tel 450.570.270 oder online unter gewaltschutz-ambulanz.charite.de
NeuRaum: Das Projekt ist unter der Mailadresse neuraum@caritas-berlin.de oder Tel. 666.335.50 erreichbar.
BIG-Hotline – Beratung und Hilfe bei häuslicher Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder: Tel 611.03.00 (rund um die Uhr erreichbar), www.big-hotline.de
www.frauenhauskoordinierung.de bietet eine gute Suchfunktion für Frauenhäuser in ganz Deutschland mit zahlreichen Filtermöglichkeiten
09.05.2018