Der Wohnbereich ist ein eigentümlich vordemokratischer Raum, schrieb das MieterMagazin anno 2002. Anders als im Arbeitsleben gibt es hier kein Mitbestimmungsrecht der Mieter, vor allem keine Vertreter im Aufsichtsrat von Wohnungsunternehmen. 14 Jahre später ändert sich nun dieser Zustand. Die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften richten zum ersten Mal Mieterräte ein.
Möglich wurde die kleine Revolution durch Druck von unten. Das Anfang 2016 in Kraft getretene Berliner Wohnraumversorgungsgesetz, das die Bildung von Mieterräten festlegt, war ein Kompromiss zwischen dem Senat und den Befürwortern eines Mietenvolksentscheides. Aufgabe der Mieterräte ist es, Stellung zu beziehen zu den Planungen bei Neubau und Modernisierung, bei der Quartiersentwicklung sowie bei Gemeinschaftseinrichtungen. Absolute Premiere ist die Mieterstimme in den Chefetagen. Ein Mitglied des Mieterrats wird zusätzlich zu einem Gasthörer in den Aufsichtsrat des Wohnungsbauunternehmens entsandt und ist dort stimmberechtigt. Zudem soll dem Mieterrat frühzeitig die jährliche Investitionsplanung vorgestellt werden. Das bedeutet: Erstmals werden die Mieter der rund 292.000 städtischen Wohnungen an Unternehmensentscheidungen beteiligt.
Bislang gab es lediglich Mieter„bei“räte, deren Kompetenzen sich im Wesentlichen auf Anhörungs- und Vorschlagsrechte im Bereich Wohnumfeld und Betriebskosten beschränkten. Bei den „harten Themen“ wie An- und Verkäufen oder Sanierungsprogrammen blieben sie außen vor. Entsprechend schwach war häufig die Beteiligung. Mieterbeiräte soll es neben den Mieterräten weiterhin geben. Beide Gremien sollen kooperieren – mit dem Ziel, mehr Mieter für die Mitarbeit zu gewinnen.
Die Unternehmen riefen die Mieter dazu auf, sich an den Wahlen zu beteiligen. Jörg Franzen, Vorstandsvorsitzender der Gesobau und Sprecher der städtischen Wohnungsbaugesellschaften: „Mit der Einrichtung von Mieterräten schlagen die Landeseigenen ein völlig neues Kapitel in ihrer Unternehmensgeschichte auf.“
Wahlberechtigt sind Mieter, die über 18 Jahre alt sind und seit mindestens sechs Monaten als Hauptmieter eine Wohnung haben. Die gleichen Voraussetzungen gelten für Mieter, die für den Mieterrat kandidieren. Diese Phase ist bereits abgeschlossen – mit guter Resonanz, wie es heißt. Nun laufen die Vorbereitungen zu den Briefwahlen. Jeder Haushalt hat nur eine Stimme, unabhängig von der Anzahl der Hauptmieter. Die Wohnungsbaugesellschaften haben für die Durchführung der Wahlen in ihren Bestandsgebieten zunächst Wahlbezirke gebildet, in denen für jeweils 5000 bis 8000 Haushalte ein Mitglied des Mieterrats gewählt wird.
Je nach Unternehmensgröße wird es fünf- bis zwölfköpfige Mieterräte geben. Für die ehrenamtliche Arbeit zahlen die Unternehmen eine kleine Aufwandsentschädigung (200 Euro pro Jahr). Außerdem unterstützen sie die Arbeit mit Räumlichkeiten und bei der Erstellung von Informationsflyern.
Ein wenig mehr darf‘s schon sein
Der Berliner Mieterverein (BMV) begrüßt die neuen Mitwirkungsmöglichkeiten. „Für die Mieter werden damit mehr Transparenz und Kontrollmöglichkeiten geschaffen“, so Geschäftsführer Reiner Wild. Es bleibe jedoch abzuwarten, wie die verstärkte Einbindung in die Tat umgesetzt wird. Ein wenig mehr als eine „Interessenvertretung für den Blick über die Schulter“, wie es die Wohnungsbaugesellschaft Mitte formuliert, darf’s schon sein. Beim BMV hatte man schon lange auf eine Ausweitung der Mitspracherechte gedrängt.
Den Initiatoren des Mietenvolksentscheids geht die Demokratisierung nicht weit genug. Mit nur einer einzigen Mieter-Stimme im Aufsichtsrat, noch dazu ohne Veto-Recht, seien die Einflussmöglichkeiten gering. Die Mitgestaltung beschränke sich faktisch auf ein Informationsrecht. Das könne zwar unter günstigen Umständen Transparenz gegen Skandale schaffen. Eine ernstzunehmende Mitbestimmung stelle man sich jedoch anders vor.
Birgit Leiß
Gießen macht’s schon lange
Die „Wohnbau Gießen“ praktiziert seit 1992 ein konsequentes Modell der Mietermitbestimmung, das von unten nach oben aufgebaut ist. Die Mieter wählen sogenannte Bezirksmieterräte, die auch Mitspracherechte bei der Planung von Baumaßnahmen haben. Diese wiederum wählen einen Unternehmensmieterrat, der an Entscheidungen der Geschäftsführung beteiligt ist. Außerdem sind zwei Mitglieder aus der Mieterschaft im Aufsichtsrat vertreten. Die Wohnbau Gießen zieht nach über 20-jähriger Erfahrung eine positive Bilanz. Mietermitbestimmung führe mittelfristig dazu, Kosten zu sparen und niedrigere Mieten zu erhalten.
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Mehr Informationen über die Wahlordnungen sowie die Satzung der Mieterräte auf den Internetseiten der Wohnungsbaugesellschaften
23.12.2018