Unsere Städte werden immer dichter, heißer, stickiger. Sie verlangen nach Begrünung, aber die kann sich horizontal kaum noch ausbreiten. Und so wächst Stadtgrün mehr und mehr auch in die Höhe: Berankte Fassaden, gewaltige Elemente mit hängenden Gärten, mobile und platzsparende Mooswände. Vertikale Begrünung ist keine Notlösung, sondern könnte die Lösung aus den Nöten der Städte sein.
Die gewaltige Brandmauer ist ein Hingucker: Gerade sprießen erste Triebe, später im Sommer leuchtet von dort sattes Grün und macht den Hof kühler. Im Herbst färbt sich das Weinlaub karminrot und viele Vögel kommen, um die Beeren zu fressen.
Wen wundert´s, dass das Interesse an Wandbegrünungen gerade in Städten enorm gewachsen ist? „Viele Höfe sind klein und versiegelt, die Stadt wird immer dichter bebaut“, begründet es Ines Fischer, Landschaftsarchitektin vom ökologischen Netzwerk Grüne Liga Berlin. „Da bleibt doch nur, mit dem Grün in die Höhe zu gehen.“
Was sich nach Notbehelf anhört, bietet eine enorme stadtökologische Ressource: Vertikale Begrünung ist nämlich nicht nur attraktiv. Sie kann Windfang sein, den Schall dämpfen, die Luft befeuchten und Schadstoffe aus ihr herausfiltern. Und längst gibt es sie nicht mehr nur als selbstständige Fassadenkletterpflanzen. So wie verschiedene Systeme von Gründächern über unseren Köpfen wachsen, ziehen sich inzwischen ganze Gärten auch an Fassaden und extra dafür aufgestellten Wänden empor.
Technik erobert die Grünfassade
„Bei uns in Wien gibt es schon deutlich mehr solcher Grünfassaden als noch vor drei oder vier Jahren“, erklärt Professorin Azra Korjenic vom Institut für Hochbau und Technologie an der Technischen Universität der österreichischen Hauptstadt. Die Bauphysikerin leitet ein Expertenteam, das die Voraussetzungen für vertikale Gärten prüft, ihre technische Ausführung überwacht – vor allem aber Messungen zur Wirksamkeit dieser „grünen Pelze“ durchführt. Deren „Halterung“ kann aus komplexen Fassadensystemen, etwa aus Aluminiumkassetten bestehen, in die Substrat, Pflanzen und ein Schlauchsystem gehängt sind. Der Fassadenabstand von circa fünf Zentimetern sorgt für eine gute Hinterlüftung und schützt den Baukörper. Bewässerung und Nährstoffgabe werden automatisch gesteuert. Was dann über ganze Wände oder auch nur an Teilen einer Fassade rankt, ist ein dichter durchaus verschiedenfarbiger Teppich.
In Wien kann man das beispielsweise am Gymnasium in der Kandlgasse bewundern, einem Pilotprojekt der Technischen Universität der Stadt. Die Schule liegt in einem Bezirk mit dichter Bebauung: ringsum Steinwände, die vor allem im Sommer enorme Hitze speichern und nach außen und innen wie Kachelöfen wirken. Ein Straßenbaum oder ein kleiner grüner Vorgarten hätten hier wenig entgegenzusetzen. Die grünen Fassadensysteme, mit denen das Team um Azra Korjenic hier experimentiert, sind nicht nur außen, sondern auch als Innenwände in einigen der Klassenräume angebracht.
Doch wie wirken sich diese auf Raumklima und Staubbildung aus? Was eignet sich am besten für den Schallschutz? Welcher Bewuchs an der Außenwand bietet die größte Wärmedämmung? Noch sind die Messungen aller Werte nicht abgeschlossen, der „Grünversuch“ läuft bis ins nächste Jahr hinein. Für die meisten der Schüler aber steht schon mal das fest: Die Luft in der Klasse ist nicht mehr so verbraucht wie früher.
Welch erstaunlichen Einfluss selbst kleine vertikale Grünflächen auf ihre Umgebung haben und wie rasch sie selbst zum Lebensraum werden, stellte auch das Team aus Landschaftsarchitekten um Kristina Hack und Christof Geskes fest. Auf der Internationalen Gartenausstellung IGA in den Marzahner Gärten der Welt gestalteten sie im Rahmen der Wassergärten einen Innenhof, an dessen Wänden 30 Zentimeter tiefe Tröge mit einem Pflanzsubstrat hängen. Aus denen sprießen Gräser, Farne, Stauden. Für das Büro war es das erste Projekt dieser Art. „Wir hatten versuchsweise erst einmal eine kleine Probewand aufgestellt, einen Meter breit und zwei Meter hoch“, erläutert Christof Geskes. „Wir waren wirklich überrascht, wie schnell die besiedelt war.“ Schon im ersten Sommer baute ein Vogel in dem kleinen grünen Pflanzenteppich sein Nest, es zogen Wildbienen und viele andere Insekten ein.
Filter für Umweltgifte
Noch kenne man längst nicht alle Wirkmechanismen vertikaler Grün-Filter für Umweltgiftesysteme, wendet die Wienerin Azra Korjenic ein. Aber ein ganz entscheidender Faktor ist seit Jahren bekannt und nachgewiesen: Die grünen Wände binden Umweltgifte. Vor allem Moose schlucken große Mengen des gefährlichen Feinstaubs und verstoffwechseln sie, wie Biologen herausgefunden haben. Dabei wirkt eine Kombination verschiedener Eigenschaften. Zum einen ihre riesige Oberfläche: Ein Moospolster von einem Quadratmeter hat Millionen winziger Blättchen. Über diese decken die Moose ihren Nährstoffbedarf. Die Blättchen ziehen Mikropartikel aus der Luft an, Ammonium-Ionen beispielsweise, die etwa 40 Prozent des gefährlichen Feinstaubs ausmachen.
Eine 16,7 Quadratmeter große Mooswand könne soviel Feinstaub aus der Luft filtern wie 275 Stadtbäume, erklärt Victor Splittgerber, einer der Gründer des Unternehmens „Green City Solutions“. Seine „City Trees“ stehen in Oslo und Hongkong. Auch in Berlin gib es viele Interessenten, etwa die Deutsche Bahn. Die hat die freistehenden Biofilter am S-Bahnhof Südkreuz und im Hauptbahnhof postiert.
An nahezu allen Orten können die Mooswände aufgestellt werden. Mit Sensoren, Solarzellen und einem Wassertank ausgestattet, sind sie effektiv, attraktiv und vor allem kostengünstig. Von den aufwendig ausgestatteten Fassadensystemen für „hängende Gärten“ kann man das indessen nicht sagen. Etwa 700 bis 1200 Euro pro Quadratmeter, so Azra Korjenic, sollten schon eingeplant werden. Und auch die Statik der Fassade muss passen: Eine Tragkraft von mindestens 100 Kilogramm pro Quadratmeter seien Voraussetzung für ein vorgehängtes System aus Pflanzkübeln, die ja auch viel Nässe und Schnee aushalten müssen, erläutert die Bauphysikerin.
Vor Spinnen oder Insekten im Zimmer müsse man übrigens keine Angst haben. Deren vermehrtes Auftreten sei ein Vorurteil, so wie auch die Vorstellung von nassen Wänden oder gar Schimmelpilzen. Das Gegenteil sei der Fall, weiß Expertin Korjenic: Eine Grünwand hält Feuchtigkeit vom Mauerwerk fern, und eine erhöhte Konzentration von Schimmelpilzsporen ist in Räumen hinter der grünen Wand nicht nachweisbar.
Rosemarie Mieder
Botanische Kunstwerke
Patrick Blanc, ein französischer Botaniker und Gartenkünstler, schuf mit seinen „hängenden Gärten“ die Alternative zu herkömmlichen Kletter- und Rankpflanzen wie Efeu und wildem Wein. Er experimentierte zunächst in und an seinem eigenen Haus, das einem Urwaldbiotop ähnelt. Dort bepflanzte er zunächst die Innenräume und vor allem Wände. Später ging er zur Fassade über. Seine Beispiele für eine vertikale Begrünung sind heute weltberühmt, sie gleichen Kunstwerken und locken Jahr für Jahr auch Tausende Touristen an. So schuf er in Paris am Musée du quai Branly eine 800 Quadratmeter große Pflanzenwand. Er bedeckte das „CaixaForum“ in Madrid mit einem sechs Stockwerke hohen Teppich aus rund 15.000 Pflanzen 250 verschiedener Arten. In Berlin kann man seine Mur Végétal im Atrium des Dussmann-Kaufhauses bewundern. In diesem vertikalen Garten blühen 6000 tropische Pflanzen auf 270 Quadratmetern. Die Wand fußt in einem 16.200 Liter großen Wasserbecken.
rm
05.07.2017