In Berlin werden an allen Ecken und Enden Wohnungen gebaut. Selbst an Stellen, wo sie die Wohnbedingungen der Nachbarn stark verschlechtern, werden sie genehmigt. Protestierenden Anwohnern teilen die Bezirksämter häufig mit, dass es gar keine Möglichkeit gegeben hätte, eine Baugenehmigung zu versagen. Es sind aber keineswegs immer planungsrechtliche Sachzwänge, die zu unverständlichen Baugenehmigungen führen, sondern zuweilen auch Bequemlichkeit und Konfliktscheu in den Ämtern.
In der Orionstraße/Am Plänterwald in Treptow fielen die Mieterinnen und Mieter aus allen Wolken, als sie von den Plänen der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land erfuhren: In den idyllischen Grünanlagen zwischen ihren Häusern aus den 1960er Jahren sollen Wohnungen gebaut werden.
Ähnliches spielte sich im Februar in der Lichtenberger Atzpodienstraße ab. Die städtische Howoge ließ dort für den geplanten Lückenschluss mit 50 Wohnungen kurzerhand Bäume fällen und einen Spielplatz abräumen. Wohnqualität und Stadtnatur bleiben auf der Strecke. „Wieso werden solche Baumaßnahmen genehmigt?“, fragen nicht nur direkte Anwohner.
Grundsätzlich besagt die Berliner Bauordnung, dass eine Baugenehmigung zu erteilen ist, „wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen“. In beiden Fällen liegt der Paragraf 34 des Baugesetzbuchs zugrunde. Dieser besagt, dass ein Bauvorhaben genehmigt werden muss, „wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung (…) in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt“. In eine Baulücke zwischen viergeschossigen Wohnhäusern kann man also nur ein Wohnhaus in gleicher Höhe bauen – kein Bürogebäude und kein Hochhaus. Selten ist es aber so eindeutig, was die „Eigenart der näheren Umgebung“ ausmacht. Kann man in einer Gegend mit frei stehenden Zeilenbauten die Ecken schließen? Gehören große Abstände zwischen den Häusern zur Eigenart der Umgebung? Das ist oft Auslegungssache. Der Paragraf 34 ist dehnbar. Eine Baugenehmigungsbehörde, die einen Bauantrag ablehnt, weil sie das Vorhaben nicht in die Umgebung eingefügt sieht, kann sich mit einiger Sicherheit auf eine Klage des Bauherrn und einen langwierigen Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang einstellen.
Allerdings: Der Paragraf 34 gilt nur dort, wo es keinen gültigen Bebauungsplan gibt. Ein amtlich aufgestellter Bebauungsplan (kurz: B-Plan) kann sehr detailliert festlegen, was an welcher Stelle gebaut werden darf. Die Grundstückseigentümer haben dann einen Anspruch darauf, dass ein Bauvorhaben, das den Vorgaben des B-Plans entspricht, auch genehmigt wird. Bei der Aufstellung eines B-Plans muss die Öffentlichkeit beteiligt werden. Die Bürgerinnen und Bürger haben also die Möglichkeit, mitzubestimmen, was künftig gebaut werden kann.
Eine Besonderheit gilt im Westteil Berlins: Wo es keinen Bebauungsplan gibt, wird die Zulässigkeit eines Bauvorhabens nicht nach Paragraf 34 entschieden, sondern nach dem Baunutzungsplan, der 1961 flächendeckend für die Halbstadt aufgestellt wurde. Dieser Plan schreibt jedoch völlig veraltete Stadtplanungsvorstellungen fest, zum Beispiel eine sehr niedrige Bebauungsdichte und eine strikte Trennung von Wohnen und Arbeiten.
Absurde Rechtslage wird ausgenutzt
Auf die Festsetzung als „beschränktes Arbeitsgebiet“ im Baunutzungsplan stützt sich auch der Chemiekonzern Bayer, der an der Tegeler Straße im Wedding eine Reihe von Altbau-Wohnhäusern abreißen will (hierzu unser Beitrag „Tegeler Straße 2-5: Bayer mauert und reißt ab“). Nach dem Baunutzungsplan ist das Wohnen hier seit 60 Jahren nicht mehr vorgesehen, dem Abriss steht planungsrechtlich nichts im Wege. Um diese absurde Rechtslage zu bereinigen, müsste das Bezirksamt Mitte nun den Uralt-Plan mit einem neuen Bebauungsplan überschreiben. Die Bezirksverordnetenversammlung hat beschlossen, „alle planungsrechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, die eine Sicherung der Wohnbebauung ermöglichen“.
Jens Sethmann
Baugenehmigung nicht auf Vorrat
Baugenehmigungen sind nicht unbegrenzt gültig. Sie verfallen, wenn zwei Jahre nach Erteilung der Bau noch nicht begonnen oder nach sechs Jahren noch nicht fertiggestellt wurde. Damit will der Senat die Spekulation mit Grundstücken verhindern, für die schon Baugenehmigungen vorliegen. Ein Grundstück mit einem genehmigten Bauprojekt verspricht beim Verkauf einen deutlich höheren Preis.
js
22.09.2021