In der Anonymität der wachsenden Großstadt gewinnen hyperlokale Netzwerke zunehmend an Bedeutung. Zwar haben sich Nachbarn von jeher vernetzt. Erst seit Kurzem findet diese aber im Internet statt. Ein kleiner Ausflug in die Nachbarschaft 2.0.
Als meine Nachbarin – zuvor in der Schweiz beheimatet – in unser Berliner Mietshaus zog, stellte sie sich allen neuen Nachbarn vor und verteilte dabei Muffins. Kurz darauf lud sie zum gemeinsamen Glühweintrinken in den Hof. Damit war sie voll im Trend. Denn nachdem der Begriff „Nachbarschaft“ lange Zeit als piefig galt und Unangenehmes wie Streit oder Kehrwoche suggerierte, gewinnt er in den letzten Jahren wieder an Bedeutung. Kein Wunder: Wir leben in einer wachsenden Stadt mit 3,5 Millionen Einwohnern, von denen mehr als die Hälfte alleine wohnt. Die Menschen werden immer älter, die Anzahl Alleinerziehender nimmt stetig zu. Für viele Menschen ist der Alltag nur zu stemmen, weil sie gut mit ihrem direkten Umfeld vernetzt sind. Ob Einkaufsdienste, Kinderbetreuung oder Blumengießen im Urlaub: informelle Netzwerke sprießen in fast jedem Mehrfamilienhaus. Schon seit Jahrzehnten gibt es in allen Berliner Bezirken zudem Nachbarschafts- oder Stadtteilzentren, in denen man zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenkommt oder Beratung für alles Mögliche findet.
Neu ist allerdings, dass sich Nachbarn immer häufiger im Internet kennenlernen und vernetzen. Es scheint einfacher zu sein, sich erst einmal im vermeintlich anonymen Raum zu beschnuppern.
2014 ging die Berliner Online-Plattform „WirNachbarn“ ans Netz, die sich als eine Form von digitaler Nachbarschaftshilfe versteht. Die Nutzer können Angebote oder Gesuche aufgeben, Beobachtungen oder Empfehlungen teilen, Veranstaltungen ankündigen und ähnliches. Um sich anmelden zu können, muss man sich einer Identitätsüberprüfung unterziehen, denn der Anbieter wirbt damit, dass nur Nachbarn mit „echten Namen“ mitmachen können. Mittlerweile sind rund 10.000 Berliner registriert. Das Angebot ist kostenlos – auf längere Sicht wird man wohl versuchen, Geld durch Werbung auf der Plattform zu verdienen. Ähnlich arbeitet „nebenan.de“, ebenfalls eine Plattform aus Berlin, die im Sommer 2015 gestartet ist.
Vorbild beider Portale – und anderer lokaler Netzwerke in Deutschland – sind US-amerikanische Seiten wie „nextdoor.com“, wo sich fast 90.000 Nachbarschaften aus dem ganzen Land austauschen. In den US-Netzwerken steht der Sicherheitsgedanke stärker im Vordergrund als in Deutschland. Dort wird beispielweise debattiert, wer Pakete aus dem Briefkasten klaut oder wie mit streunenden Katzen umzugehen ist.
Anders als bei „WirNachbarn“ und „nebenan.de“ stehen bei dem Netzwerk „Polly & Bob“, das bislang auf den Berliner Bezirk Friedrichshain beschränkt ist, gemeinsame Aktivitäten im Vordergrund. Zwar findet auch hier die Vernetzung online statt. Ziel ist es aber, das Virtuelle ins Reale zu ziehen: mit gemeinsamen Offline-Aktionen wie Stammtischen, Wohnzimmerkonzerten oder Abendessen mit Flüchtlingen. Die 2013 gegründete Plattform hat heute über 2000 registrierte Mitglieder, die einen monatlichen Mitgliedsbeitrag von mindestens zwei Euro zahlen.
Schon deutlich länger, nämlich seit 2004, ist das „Netzwerk Nachbarschaftshilfe“ online. Das unabhängige Aktionsbündnis regt gemeinsame Aktionen im direkten Wohnumfeld an und lobt Preise für vorbildliche Nachbarschaften aus, die beispielsweise gemeinsame Begrünungsaktionen starten. Über 180.000 Menschen aus 1700 Nachbarschaften sind auf der kostenlosen Internetseite registriert.
Ob virtuell oder real, die Vernetzung scheint zu funktionieren: Eine aktuelle Studie zeigt, dass mehr als dreißig Prozent der Deutschen einen direkten Nachbarn als „guten Freund“ bezeichnen.
Katharina Buri
Biete Backform, suche Bügelbrett
Eine Form von Nachbarschaftshilfe ist die sogenannte Shared Economy, im Deutschen auch als Ko-Konsum („kollaborativer Konsum“) bezeichnet. „Nutzen statt Besitzen“, lautet die Devise. Die Idee: Gegenstände, die nicht dauerhaft benötigt werden, werden mit anderen geteilt. Aber wie erfährt man, dass beim Nachbarn ein Fondue-Topf oder ein Fahrradanhänger darauf warten, ausgeliehen zu werden? Das Schweizer Start-up „Pumpipumpe“ verschickt gegen einen Unkostenbeitrag Sticker mit Icons, die am Briefkasten angebracht werden können. Damit signalisiert man der Nachbarschaft, was man selbst zu verleihen hat. Auf einer Karte sind die Verleihorte verzeichnet – in Berlin immerhin an die 1100.
kb
Nachbarschaftsnetze im Internet:
http://blog.pollyandbob.com
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28.09.2022